60 Jahre NATO: Kollektive Selbstverteidigung gegen den Wandel
von Otfried Nassauer
Mit Pomp und riesigem Sicherheitsaufwand hat die NATO ihren 60.
Geburtstag gefeiert. Symbolträchtige Gesten und Bilder: Frankreich
kehrt in die Militärstruktur zurück, neue Mitglieder wurden
aufgenommen, ein neuer Generalsekretär gewählt, eine Gipfelerklärung
verabschiedet und natürlich: Der erste Auftritt von Barack Obama
vor der NATO - die Allianz feierte sich und wollte den Anspruch untermauern,
auch künftig Europas wichtigste Sicherheitsinstitution zu sein.
„Change – Yes we can!“ auch bei der NATO? Barack Obama ließ hoffen
und setzte Zeichen. Er zeigte sich als guter Zuhörer, versprach Europa
einen kooperativen Umgang und verzichtete auf Forderungen nach mehr Truppen
für Afghanistan. Er überraschte mit der Ankündigung, die
Vision einer atomwaffenfreien Welt wiederzubeleben und kündigte einen
neuen Abrüstungsvertrag mit Russland an. Seinen Worten folgten konkrete
Schritte, um das Verhältnis zu Russland zu entkrampfen und neue Vereinbarungen
zu erleichtern. Selbst im Streit um das iranische Atomprogramm schlug
er neue Töne an. Er zeigte Verhandlungsbereitschaft – auch zu bilateralen
Gesprächen – und bestritt nicht länger, dass Teheran im Grundsatz
das Recht hat, Uran anzureichern.
Und die NATO selbst? „Change ? – No we can’t“ - so könnte die Überschrift
über die Gipfelbeschlüsse lauten. Das Militärbündnis
erwies sich als Lordsiegelbewahrer des Erbes von George W. Bush. Symptomatisch
die Gipfeldokumente: Sie lesen sich in weiten Teilen, als habe in den
USA kein oder gar ein gefährlicher Regierungswechsel stattgefunden.
Erfolgreich war ein Bündnis konservativer NATO-Bürokraten, amerikanischer
Diplomaten aus der Bush-Ära und den neuen NATO-Mitgliedern. Aus ihrer
Sicht muss die NATO vor Konkurrenz durch andere Institutionen geschützt
und dafür gesorgt werden, dass alle potentiellen militärischen
Aufgaben und Fähigkeiten primär in die Zuständigkeit der
NATO fallen. Sie sehen in Russland eine latente Gefahr und die Hauptaufgabe
der NATO darin, Sicherheit vor Russland zu garantieren. Moskau soll bei
wichtigen Entscheidungen über die europäische Sicherheit möglichst
außen vor gehalten werden. Präventive und kollektive Selbstverteidigung
gegen den Wandel durch Obama könnte man dies nennen. Die Gipfel-Dokumente
tragen seine Unterschrift. Daran kann er künftig erinnert werden.
Sie stärken jene Kräfte in der neuen US-Administration, die
weiterhin klassische, realpolitische Machtpolitik machen wollen.
Ein kräftiges „Weiter so“ enthalten die Gipfeldokumente im Blick
auf die globale Ausrichtung der NATO: Die Allianz soll „die Bereitstellung
umfassend vorbereiteter und verlegbarer Streitkräfte“ sicherstellen,
die „fähig sind, das volle Spektrum militärischer Operationen
und Missionen durchzuführen – auf dem und über das Territorium
der Allianz hinaus, an dessen Peripherie und über strategische Distanzen“.
Deutlicher kann der Anspruch, ein Militärbündnis mit globaler
Aufgabe zu sein, kaum formuliert werden. Im Vordergrund stehen die Bekämpfung
des internationalen Terrorismus und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Auf weitere globale Aufgaben wird vorbereitet. So will die NATO prüfen,
ob sie die Bekämpfung der Piraterie zu einer Daueraufgabe macht.
Energiesicherheit, Klimawandel und zerfallende Staaten werden als Risiken
benannt, die ebenfalls ein globales Engagement erfordern können.
Zudem erklärt die NATO ihr Interesse enger mit der UNO zusammen zu
arbeiten. Würde sie wie gewünscht von der UNO als Regionalorganisation
behandelt, so gewänne sie erheblich an Legitimation.
Obama’s Ankündigung, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus
in Afghanistan mit mehr Truppen, mehr Geld, verstärkten zivilen Bemühungen
sowie einem umfassenden Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte
zu stärken, werden von der NATO im Sinne einer „Surge-Strategie“
interpretiert. Indirekt wird sogar angedeutet, dass dies eine Ausweitung
ihrer Operationen auf Pakistan erfordern könnte: „Die internationale
Gemeinschaft zielt darauf, sicherzustellen, dass Al Kaida und andere gewalttätige
Extremisten Afghanistan und Pakistan nicht als „sicheren Himmel“ nutzen
können, aus dem heraus sie Terrorangriffe starten können.“
Signale Obamas, auf Russland zuzugehen konterkariert die NATO. Während
Obama die Pläne für ein Raketenabwehrsystem in Europa überprüfen
will, will die Machbarkeit eines ganz Europa schützenden Raketenabewehrsystems
weiter untersuchen. Russlands Vorschlag, über eine neue europäische
Sicherheitsarchitektur nachzudenken, wird für diskussionswürdig
befunden, aber zugleich indirekt zurückgewiesen, indem eine Diskussion
über neue Sicherheitsinstitutionen ausgeschlossen wird. Moskaus Georgienpolitik
wird scharf, ja einseitig kritisiert. Moskau habe die Prinzipien der OSZE
und der NATO-Russland-Akte verletzt. Es wird aufgefordert, seine Truppen
vollständig abzuziehen. Georgien dagegen wird nicht kritisiert. Im
Gegenteil: Die NATO erneuert das Versprechen, Georgien und die Ukraine
aufzunehmen. Sie verspricht zwar, die Diskussionen im NATO-Russland-Rat
wiederzuaufnehmen, will aber mit Moskau nur dann reden, wenn zuvor Konsens
unter den NATO-Mitgliedern erzielt wurde.
Die von Obama angestrebte Wiederbelebung der Rüstungskontrolle wird
erschwert. Für die Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle
in Europa (KSE) listet das Kommunique eine Vielzahl von Vorbedingungen
auf, die Russland erfüllen müsse, bevor Fortschritte möglich
seien. Obamas Ankündigung nuklearer Abrüstung, wird begrüßt.
Zugleich kontert die NATO seine Vision einer atomwaffenfreien Welt mit
der Feststellung, man werde für „nukleare und konventionelle Abrüstung
in Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag werben“. Mit dieser
Formel wiesen die Nuklearmächte traditionell Forderungen nach nuklearer
Abrüstung zurück. Zugleich will die NATO an einem „ausgewogenen
Mix nuklearer und konventioneller Fähigkeiten“ zur Abschreckung festhalten.
So wird traditionell die nukleare Teilhabe und die Stationierung amerikanischer
Nuklearwaffen in Europa begründet. Aktiver will Brüssel künftig
die Abrüstungsleistungen seiner Mitglieder vermarkten, lehnte aber
ab, ein Aktionsplan mit konkreten Rüstungskontrollschritten zu beschließen.
Probleme und interne Widersprüche in der Allianz klammerte der Gipfel
aus. Kein Wort darüber, dass die vom Scheitern bedrohten militärischen
Operationen der NATO „out of area“ dazu führen können, dass
die NATO „out of business“ gehen könnte, weil diese Einsätze
in vielen NATO-Ländern kaum innenpolitische Akzeptanz haben. Kein
Wort dazu, dass in der NATO Streit über die Ausrichtung des Bündnisses
besteht: Hier die neuen Mitglieder, die wollen, dass die NATO Sicherheit
vor Russland organisiert und Moskau eindämmt, dort viele alte Mitglieder,
die europäische Sicherheit künftig mit Russland gestalten wollen.
Keine Debatte darüber, wie das Bündnis wieder zu einem Ort kollektiver
sicherheitspolitischer Entscheidungen werden könnte oder wie das
Verhältnis zwischen NATO und EU neu justiert werden kann. Verzichtet
wurde auch auf eine Diskussion über die objektiven Grenzen des militärischen
Krisenmanagements und eine Debatte darüber, dass den Risiken der
Gegenwart vor allem mit nicht-militärischen Mitteln begegnet werden
muss, über die die NATO gar nicht verfügt.
Diese Zukunftsfragen wurden vertagt. Vielleicht sollen sie im Kontext
der Erarbeitung einer neuen NATO-Strategie debattiert werden. Doch ob
das gelingt, darf bezweifelt werden. Die Ausarbeitung einer neuen Strategie
würde überfrachtet, wenn sie politische Grundfragen oder gar
Widersprüche zwischen den Mitgliedern bereinigen soll. Zudem soll
die Expertengruppe, die die Strategie ausarbeitet, eng mit dem NATO-Rat
zusammenarbeiten. Der wiederum wird von der NATO-Bürokratie beraten
und ist deshalb ein Ort, an dem bürokratisches Beharrungsvermögen,
die Konkurrenz nationaler Sichtweisen und das Konsensprinzip notwendige
Veränderungen leicht blockieren können.
60 Jahre nach ihrer Gründung wird die NATO immer mehr zum Kriegerdenkmal.
Nach außen ein beeindruckender Koloss erweist sie sich als innen
hohl. Dort frisst der Rost. Vielleicht ist das sogar gut, da es die eigentliche
Alternative deutlicher macht: Teure Sanierung oder Abriss.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS. Dieser Artikel
entstand unter Mitarbeit von Alexander Lurz und Roman Deckert.
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