Die Raketenabwehr und die NATO
von Otfried Nassauer
NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer war zufrieden, als er am 19. April das
Ergebnis der Sondersitzung des NATO-Rates zu den umstrittenen Raketenabwehrplänen der USA
für Europa verkündete. Die NATO unterstützt das US-Vorhaben, wünscht aber, dass es mit
künftigen NATO-Systemen kompatibel sein soll. Ist die Kuh vom Eis, der Aufbau des Systems
beschlossene Sache? Keineswegs. Die Debatte hat gerade erst begonnen. Es geht um mehr als
darum, ob in Europa ein paar Raketen stationiert werden sollen.
Die Werbekampagne
Washington will ab 2011 im Nordosten Polens 10 Abfangraketen und in Tschechien ein
Radar zur Überwachung der Flugbahn von Mittel- und Langstreckenraketen aufbauen. Im
kommenden Jahr soll mit dem Bau begonnen werden, 2013 soll das System einsetzbar sein.
Rechzeitig bevor der Iran ab 2015 über Langstreckenraketen verfügt, wie die
US-Geheimdienste spekulieren. Geplant ist außerdem der Aufbau eines weiteren Radars in
der Kaukasusregion, dass die Flugbahn gestarteter Raketen des Irans frühzeitig entdecken
soll. Ein Stationierungsort ist noch nicht gefunden. Offen ist auch, welche Abfangraketen
die USA letztlich in Europa stationieren wollen.
General Obering, der Chef der US-Raketenabwehrbehörde MDA, erläuterte im März, dass
Raketen mit zwei Antriebsstufen in Polen stationiert werden sollen. Wie die dreistufigen
Raketen in den USA sollen sie anfliegende Raketen außerhalb der Erdatmosphäre, durch
einen Frontalzusammenstoß zerstören. Sie tragen keinen Sprengkopf, sondern einen etwa 70
Kilo schweren, manövrierbaren Kollisionskörper, das sogenannte Hit-to-Kill-Vehikel in
den Weltraum. Dieser wird dort auf Kollisionskurs mit anfliegenden atomaren Sprengköpfen
manövriert. Eine zweistufige Abfangrakete ist leichter, kann schneller starten, steigen
und ist flexibler, weil früher manövrierbar. Sie benötigt bis zum Brennschluss der
Raketentriebwerke nur etwa zwei statt drei Minuten. So könnten anfliegende Sprengköpfe
deutlich früher und auch noch später abfangen werden als mit der schwerfälligeren
dreistufigen Version. Sollte die dreistufige Rakete Mittelstreckenwaffen großer
Reichweite und Langstreckenraketen auf dem Flug in die USA abfangen, so könnte eine
zweistufige Version schon Raketen mit Reichweiten ab 2000 oder 2500 Kilometern bekämpfen.
Zeigen sich technische Probleme, so kann auch die dreistufige Version aufgestellt werden.
So können die USA bei skeptischen Europäern besser für ihr Abwehrsystem werben.
Amerika will mit den Raketen in Europa nicht nur sich selbst schützen, sondern auch den
größten Teil Europas. Außerdem gibt es einen guten Grund mehr, das System früh zu
stationieren. Es ist äußerst zweifelhaft, ob der Iran bis 2015 atomare
Interkontinentalraketen entwickeln kann, aber nicht ausgeschlossen, dass er die Reichweite
seiner Mittelstreckenraketen auf 2000 oder 3000 Kilometer steigern könnte.
Auch die NATO hat bereits vor Jahren mit Untersuchungen begonnen, wie sie künftig Out
of Area eingesetzte Truppen gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen schützen kann.
Zunächst will Brüssel Abwehrmöglichkeiten gegen Raketen mit bis zu 1000 Kilometer
Reichweite schaffen, später solche gegen Flugkörper mit bis zu 3000 Kilometer
Reichweite. Über die weitergehende und teurere Option gibt es noch keine Einigung.
Vorschläge, ähnlich wie die USA ein Raketenabwehrsystem mit einer oder mehreren Basen
für Abfangraketen und den dazugehörigen Flugbahnverfolgungsradaren aufzubauen kosten je
nach Umfang des Systems acht oder gar 20 Milliarden Euro - so die ersten, sicher noch zu
billigen Schätzungen der Industrie. Eine baldige Einigung ist aber nicht zu erwarten. Das
wissen auch die USA zu nutzen. General Obering argumentiert, Washington werde sein
Raketenabwehrsystem schon deshalb bauen, weil es die USA schützt und es deshalb im
Interesse Washingtons liege. Als nationales System der USA werde es unter nationalem
Kommando stehen. Ein Mitspracherecht für die Stationierungsländer oder die Nato sei
nicht vorgesehen. Washington sei aber willens, Europa zu schützen und sein System später
als nationalen Beitrag in erweiterte Raketenabewehrfähigkeiten der Nato einzubringen. Die
zögerliche NATO, so wird suggeriert, könne vom amerikanischen Schutzschirm vorläufig
kostenfrei profitieren und ihn später auf eigene Kosten erweitern, zum Beispiel in dem
sie in den USA weitere Abfangraketen kauft.
Russische Reaktionen
Russland lehnt die US-Pläne ab. Es hält die Analyse der Bedrohung aus dem Iran für
übertrieben und befürchtet, dass die Abwehrraketen auch russische Raketen abfangen und
somit Russland zu Gegenmaßnahmen zwingen könnten. Russische Generäle drohten sogar mit
massiven Gegenmaßnahmen wie einer Aufkündigung des INF-Vertrages, der
Mittelstreckenraketen seit 1987 verbietet. Mittlerweile wird die Argumentation politischer
und realistischer. Russlands Abschreckungsfähigkeit gerät nicht in Gefahr, wenn das
US-System fünf oder zehn Interkontinentalraketen der südwestrussischen Basen gefährden
könnte. Trotzdem hat Russland gewichtige Gegenargumente: Russland beschwert sich zu
recht, nur informiert und nicht ernsthaft konsultiert zu werden. Es fordert genauere
technische Daten. Es kritisiert zu recht, dass die Versprechen der NATO anlässlich der
NATO-Osterweiterung ausgehebelt werden, als Russland verbindlich zugesagt wurde, keine
bedeutsamen militärischen Fähigkeiten der USA - z.B. Nuklearwaffen - auf dem Territorium
der neuen Mitglieder zu stationieren. Es merkt an, dass unklar ist, ob und wie das
Raketenabwehrsystem der USA künftig weiter ausgebaut wird und kritisiert, dass in der
Folge eine gefährliche Aufrüstungsspirale entstehen könnte.
Die Raketenabwehr und die Zukunft der NATO
Hinter der Debatte steckt allerdings noch mehr Konfliktpotential. Es geht um die
Zukunft der NATO und deren künftige Strategie. Polen ist auch bereit, die
US-Abwehrraketen zu stationieren, weil die veränderte NATO Polen nicht mehr soviel
Sicherheit garantiert wie erhofft. Warschauer Offizielle signalisieren deshalb auch, dass
Polen bereit sei, amerikanische Atomwaffen aufzunehmen und in die nukleare Teilhabe
einzusteigen. Warschau wünscht einen bilateralen, verbindlichen Sicherheitsvertrag mit
den USA als Gegenleistung. Zwar ist nicht zu erwarten dass der amerikanische Senat dem je
mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zustimmen würde - deutlich aber wird, wie viel
Druck auf die Debatte über die Zukunft der NATO und deren künftige Strategie entsteht.
Washington hat den betroffenen europäischen Altmitgliedern der NATO denn auch bereits
zwei Fragen vorlegt: Wie haltet ihr es mit der Raketenabwehr? Und wie mit den Atomwaffen
in Europa, mit der Zukunft der nuklearen Teilhabe?
Das signalisiert den Einstieg in die Debatte über eine neue NATO-Strategie. Wie weit
folgt die NATO den Veränderungen in der nationalen US-Strategie unter George W. Bush? Die
USA haben die Rolle nuklearer Waffen und ihr Abschreckungskonzept deutlich verändert.
Konventionelle und nukleare strategische Offensivkapazitäten und die Raketenabwehr werden
heute als Einheit betrachtet. Gegnerische Raketen, die mit einem eigenen Angriff nicht
zerstört werden können, sollen abgefangen werden. Überraschungsangriffe sollen
abgewehrt werden, bevor der Gegenangriff erfolgt. Präventivangriffe auf vorhandene,
entstehende oder befürchtete Massenvernichtungswaffen und Raketenpotentiale staatlicher
und nicht-staatlicher Gegner eingeschlossen. Neue konventionelle und nukleare Waffen
sollen entwickelt werden. Die Schwelle für den Einsatz nuklearer Waffen könnte sinken.
Die Modernisierung des US-Nuklearpotentials hat Vorrang vor nuklearer Abrüstung und
verbesserter Nichtverbreitung. Ist die NATO bereit, da mitzugehen? Die Tragweite dieser
Diskussion gleicht der der sogenannten Nachrüstungsdebatte der achtziger Jahre.
Noch gibt es die neuen Abfangraketen nicht. Niemand weiß, ob die Raketenabwehr in
Europa besser funktionieren würde, als jene in Alaska. Die Risiken, die von der
Zerstörung von Atomsprengköpfen außerhalb der Atmosphäre ausgehen, sind
möglicherweise groß. Ob die befürchtete Bedrohung entsteht, ist höchst ungewiss. Also
bleibt die Frage: Warum einseitig aufrüsten und riskieren, dass eine NATO-Strategie mit
rechtswidrigen Elementen entsteht, solange politisch verhindert werden kann, dass die
Risiken, gegen die die Raketenabwehr schützen soll, entstehen? Vielleicht ist die Antwort
diese: George W. Bush will als Vater der Raketenabwehr in die Geschichte eingehen, nicht
aber als gescheiterter Kriegsherr im Irak.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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