FriedensForum
Nr. 2, April 2007


Die Raketenabwehr und die NATO

von Otfried Nassauer

NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer war zufrieden, als er am 19. April das Ergebnis der Sondersitzung des NATO-Rates zu den umstrittenen Raketenabwehrplänen der USA für Europa verkündete. Die NATO unterstützt das US-Vorhaben, wünscht aber, dass es mit künftigen NATO-Systemen kompatibel sein soll. Ist die Kuh vom Eis, der Aufbau des Systems beschlossene Sache? Keineswegs. Die Debatte hat gerade erst begonnen. Es geht um mehr als darum, ob in Europa ein paar Raketen stationiert werden sollen.


Die Werbekampagne

Washington will ab 2011 im Nordosten Polens 10 Abfangraketen und in Tschechien ein Radar zur Überwachung der Flugbahn von Mittel- und Langstreckenraketen aufbauen. Im kommenden Jahr soll mit dem Bau begonnen werden, 2013 soll das System einsetzbar sein. Rechzeitig bevor der Iran ab 2015 über Langstreckenraketen verfügt, wie die US-Geheimdienste spekulieren. Geplant ist außerdem der Aufbau eines weiteren Radars in der Kaukasusregion, dass die Flugbahn gestarteter Raketen des Irans frühzeitig entdecken soll. Ein Stationierungsort ist noch nicht gefunden. Offen ist auch, welche Abfangraketen die USA letztlich in Europa stationieren wollen.

General Obering, der Chef der US-Raketenabwehrbehörde MDA, erläuterte im März, dass Raketen mit zwei Antriebsstufen in Polen stationiert werden sollen. Wie die dreistufigen Raketen in den USA sollen sie anfliegende Raketen außerhalb der Erdatmosphäre, durch einen Frontalzusammenstoß zerstören. Sie tragen keinen Sprengkopf, sondern einen etwa 70 Kilo schweren, manövrierbaren Kollisionskörper, das sogenannte Hit-to-Kill-Vehikel in den Weltraum. Dieser wird dort auf Kollisionskurs mit anfliegenden atomaren Sprengköpfen manövriert. Eine zweistufige Abfangrakete ist leichter, kann schneller starten, steigen und ist flexibler, weil früher manövrierbar. Sie benötigt bis zum Brennschluss der Raketentriebwerke nur etwa zwei statt drei Minuten. So könnten anfliegende Sprengköpfe deutlich früher und auch noch später abfangen werden als mit der schwerfälligeren dreistufigen Version. Sollte die dreistufige Rakete Mittelstreckenwaffen großer Reichweite und Langstreckenraketen auf dem Flug in die USA abfangen, so könnte eine zweistufige Version schon Raketen mit Reichweiten ab 2000 oder 2500 Kilometern bekämpfen. Zeigen sich technische Probleme, so kann auch die dreistufige Version aufgestellt werden.

So können die USA bei skeptischen Europäern besser für ihr Abwehrsystem werben. Amerika will mit den Raketen in Europa nicht nur sich selbst schützen, sondern auch den größten Teil Europas. Außerdem gibt es einen guten Grund mehr, das System früh zu stationieren. Es ist äußerst zweifelhaft, ob der Iran bis 2015 atomare Interkontinentalraketen entwickeln kann, aber nicht ausgeschlossen, dass er die Reichweite seiner Mittelstreckenraketen auf 2000 oder 3000 Kilometer steigern könnte.

Auch die NATO hat bereits vor Jahren mit Untersuchungen begonnen, wie sie künftig Out of Area eingesetzte Truppen gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen schützen kann. Zunächst will Brüssel Abwehrmöglichkeiten gegen Raketen mit bis zu 1000 Kilometer Reichweite schaffen, später solche gegen Flugkörper mit bis zu 3000 Kilometer Reichweite. Über die weitergehende und teurere Option gibt es noch keine Einigung. Vorschläge, ähnlich wie die USA ein Raketenabwehrsystem mit einer oder mehreren Basen für Abfangraketen und den dazugehörigen Flugbahnverfolgungsradaren aufzubauen kosten je nach Umfang des Systems acht oder gar 20 Milliarden Euro - so die ersten, sicher noch zu billigen Schätzungen der Industrie. Eine baldige Einigung ist aber nicht zu erwarten. Das wissen auch die USA zu nutzen. General Obering argumentiert, Washington werde sein Raketenabwehrsystem schon deshalb bauen, weil es die USA schützt und es deshalb im Interesse Washingtons liege. Als nationales System der USA werde es unter nationalem Kommando stehen. Ein Mitspracherecht für die Stationierungsländer oder die Nato sei nicht vorgesehen. Washington sei aber willens, Europa zu schützen und sein System später als nationalen Beitrag in erweiterte Raketenabewehrfähigkeiten der Nato einzubringen. Die zögerliche NATO, so wird suggeriert, könne vom amerikanischen Schutzschirm vorläufig kostenfrei profitieren und ihn später auf eigene Kosten erweitern, zum Beispiel in dem sie in den USA weitere Abfangraketen kauft.


Russische Reaktionen

Russland lehnt die US-Pläne ab. Es hält die Analyse der Bedrohung aus dem Iran für übertrieben und befürchtet, dass die Abwehrraketen auch russische Raketen abfangen und somit Russland zu Gegenmaßnahmen zwingen könnten. Russische Generäle drohten sogar mit massiven Gegenmaßnahmen wie einer Aufkündigung des INF-Vertrages, der Mittelstreckenraketen seit 1987 verbietet. Mittlerweile wird die Argumentation politischer und realistischer. Russlands Abschreckungsfähigkeit gerät nicht in Gefahr, wenn das US-System fünf oder zehn Interkontinentalraketen der südwestrussischen Basen gefährden könnte. Trotzdem hat Russland gewichtige Gegenargumente: Russland beschwert sich zu recht, nur informiert und nicht ernsthaft konsultiert zu werden. Es fordert genauere technische Daten. Es kritisiert zu recht, dass die Versprechen der NATO anlässlich der NATO-Osterweiterung ausgehebelt werden, als Russland verbindlich zugesagt wurde, keine bedeutsamen militärischen Fähigkeiten der USA - z.B. Nuklearwaffen - auf dem Territorium der neuen Mitglieder zu stationieren. Es merkt an, dass unklar ist, ob und wie das Raketenabwehrsystem der USA künftig weiter ausgebaut wird und kritisiert, dass in der Folge eine gefährliche Aufrüstungsspirale entstehen könnte.


Die Raketenabwehr und die Zukunft der NATO

Hinter der Debatte steckt allerdings noch mehr Konfliktpotential. Es geht um die Zukunft der NATO und deren künftige Strategie. Polen ist auch bereit, die US-Abwehrraketen zu stationieren, weil die veränderte NATO Polen nicht mehr soviel Sicherheit garantiert wie erhofft. Warschauer Offizielle signalisieren deshalb auch, dass Polen bereit sei, amerikanische Atomwaffen aufzunehmen und in die nukleare Teilhabe einzusteigen. Warschau wünscht einen bilateralen, verbindlichen Sicherheitsvertrag mit den USA als Gegenleistung. Zwar ist nicht zu erwarten dass der amerikanische Senat dem je mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zustimmen würde - deutlich aber wird, wie viel Druck auf die Debatte über die Zukunft der NATO und deren künftige Strategie entsteht. Washington hat den betroffenen europäischen Altmitgliedern der NATO denn auch bereits zwei Fragen vorlegt: Wie haltet ihr es mit der Raketenabwehr? Und wie mit den Atomwaffen in Europa, mit der Zukunft der nuklearen Teilhabe?

Das signalisiert den Einstieg in die Debatte über eine neue NATO-Strategie. Wie weit folgt die NATO den Veränderungen in der nationalen US-Strategie unter George W. Bush? Die USA haben die Rolle nuklearer Waffen und ihr Abschreckungskonzept deutlich verändert. Konventionelle und nukleare strategische Offensivkapazitäten und die Raketenabwehr werden heute als Einheit betrachtet. Gegnerische Raketen, die mit einem eigenen Angriff nicht zerstört werden können, sollen abgefangen werden. Überraschungsangriffe sollen abgewehrt werden, bevor der Gegenangriff erfolgt. Präventivangriffe auf vorhandene, entstehende oder befürchtete Massenvernichtungswaffen und Raketenpotentiale staatlicher und nicht-staatlicher Gegner eingeschlossen. Neue konventionelle und nukleare Waffen sollen entwickelt werden. Die Schwelle für den Einsatz nuklearer Waffen könnte sinken. Die Modernisierung des US-Nuklearpotentials hat Vorrang vor nuklearer Abrüstung und verbesserter Nichtverbreitung. Ist die NATO bereit, da mitzugehen? Die Tragweite dieser Diskussion gleicht der der sogenannten Nachrüstungsdebatte der achtziger Jahre.

Noch gibt es die neuen Abfangraketen nicht. Niemand weiß, ob die Raketenabwehr in Europa besser funktionieren würde, als jene in Alaska. Die Risiken, die von der Zerstörung von Atomsprengköpfen außerhalb der Atmosphäre ausgehen, sind möglicherweise groß. Ob die befürchtete Bedrohung entsteht, ist höchst ungewiss. Also bleibt die Frage: Warum einseitig aufrüsten und riskieren, dass eine NATO-Strategie mit rechtswidrigen Elementen entsteht, solange politisch verhindert werden kann, dass die Risiken, gegen die die Raketenabwehr schützen soll, entstehen? Vielleicht ist die Antwort diese: George W. Bush will als Vater der Raketenabwehr in die Geschichte eingehen, nicht aber als gescheiterter Kriegsherr im Irak.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS