NATO: Geburtstagstorte flambiert?
Selbstmandatierung als Bündnisstrategie
Gerhard Piper
Bis zum April 1999, wenn sie ihr neues Strategisches
Konzept verabschieden wird, muss sich die NATO entscheiden. Soll zukünftig die
Verteidigung des Bündnisgebietes vorrangiger Existenzzweck der NATO sein, oder will sie
weltweit intervenieren.
Durch die NATO-Politik der letzten Jahre scheint diese Frage bereits vorab entschieden zu
sein, aber schon stellt sich ein neues Problem: Soll die NATO nur solche Interventionen
durchführen, für die ein Mandat des UN-Sicherheitsrates vorliegt, und trägt damit zu
einer Stärkung des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen bei, oder will sie
zukünftig durch sogenannte selbstmandatierte Einsätze zu einem neuen imperialen
Herrschaftsinstrument werden?
Die NATO und das Völkerrecht
In ihrem Washingtoner Gründungsvertrag vor fünfzig Jahren hat die
NATO die Vorrangrolle des UN-Sicherheitsheitsrates für die Erhaltung des Friedens
festgeschrieben, die Verpflichtungen ihrer Mitgliedsstaaten gemäß der UN-Charta
anerkannt und sich für die "Herrschaft des Rechts" ausgesprochen. In ihrer
Charta ächtete die UNO den Krieg als Geißel der Menschheit und gestattete nur zwei
Ausnahmen: Das Recht auf unmittelbare Selbstverteidigung im Falle eines militärischen
Angriffs gemäß Artikel 51 und militärische Sanktionsmaßnahmen als letztes Mittel zur
Abwehr einer Gefahr für den Weltfrieden gemäß Artikel 42. In beiden Fällen bleibt
allein dem UN-Sicherheitsrat die letzte Entscheidung über Militäraktionenen vorbehalten.
Nur wenn er durch eine entsprechende Resolution eine ausdrückliche Genehmigung, also ein
Mandat, erteilt, ist militärische Gewalt völkerrechtlich sanktioniert. Die praktische
Politik der UNO hat in der Vergangenheit gezeigt, wenn der UN-Sicherheitsrat in einer
akuten Krise durch den mangelnden Konsens unter seinen Ständigen Mitglieder nicht
handlungsfähig war, dann die Kompetenzen des Sicherheitsrates an die Generalversammlung
übertragen werden konnten, die über eine Intervention mit Mehrheit zu entscheiden hatte.
Gemäß der UN-Charta gibt es also eine klare Unterscheidung zwischen
legalen, mandatierten Militärinterventionen und illegalen, weil nicht-mandatierten
Kampfeinsätzen. Nicht die militärischen Aktionen einer intervenierenden Truppe sind also
in diesem Zusammenhang legal oder illegal, sondern entscheidend ist allein die Frage, auf
welcher Rechtsgrundlage die Kampfhandlungen basieren: mit oder ohne Mandat. Die sogenannte
"Selbstmandatierung" setzt Mandatslosigkeit voraus und ist damit per
definitionem ein illegaler Akt. Entsprechend wurde in einer NATO-Direktive der beiden
NATO-Kommandobereiche Europa und Atlantik, "Bi-MNC Directive", vom 11.12.1995
ein Einsatz ohne Mandat strikt abgelehnt: "Friedensunterstützende Maßnahmen
erfordern normalerweise die Entsendung militärischen Personals und Geräts von einem oder
mehreren souveränen Staaten in oder durch das Territorium eines anderen souveränen
Nation. Ohne eine echte Autorisierung und Abstimmung wären solche Operationen illegal und
würden eine Verletzung der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit der
betreffenden Nation darstellen."
Kurzes Gedächtnis
Bis 1991 gab es keine Beteiligung der NATO an friedenserhaltenden Missionen der UN, da die
NATO nach ihrem Selbstverständnis eine Militärallianz ausschließlich zur Verteidigung
des Territoriums ihrer Mitgliedsstaaten war. Mit der Zunahme dieser Einsätze in der
ersten Hälfte der neunziger Jahre änderte sich dies. Nachdem schon während des
Golfkrieges 1991 die AWACS-Flugzeuge der NATO die Operation ANCHOR GUARD
durchgeführt hatten, beschloss die NATO im Dezember 1992 offiziell, sich zukünftig an
UN-Operationen zu beteiligen. Beim Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien kam es dann zum
ersten Kampfeinsatz der NATO: Am 28.2.1994 schossen zwei amerikanische F-16 vier serbische
Militärflugzeuge ab. Rechtsgrundlage hierfür war die UN-Resolution 816. Nach einem
serbischen Artillerieangriff auf Sarajewo am 28. August 1995, bei dem 43 Menschen starben,
starteten die NATO-Staaten ihre erste gemeinsame Operation DELIBERATE FORCE. Wenige Wochen
später, im Dezember 1995, übernahm die NATO gemäß einer Mandatierung durch die
Resolution 1088 des UN-Sicherheitsrates gar die Einsatzführung der Jugoslawienmission von
der UNO. Für die Durchführung dieser Operation war die NATO der UNO allerdings nicht
rechenschaftspflichtig - ein erster wichtiger Schritt hin zu einer Autonomie der NATO
gegenüber der UNO.
Rückkehr zum Faustrecht?
Eines der politisch brisantestes Elemente der fürApril 1999 angekündigten
Strategiereform der NATO ist das Bestreben, zukünftig out-of-area-Einsätze
gegebenenfalls ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates durchzuführen. Seit der Berliner
NATO-Ratstagung im Juni 1996 betrachtet die Allianz "friedenunterstützende"
Einsätze und "Stabilitätsprojektion" nach außerhalb des NATO-Gebietes als
ihre legitimen Aufgaben. Von der früher eingestandenen Illegalität solcher Einsätze
will die NATO heute nichts mehr wissen, schließlich möchte sie sich nicht selbst als
kriminelle Organisation darstellen. Sollte sich die NATO nun tatsächlich auch für
selbstmandatierte Kampfeinsätze aussprechen, würde der Nordatlantikrat der NATO damit
eine Vormachtstellung gegenüber dem Sicherheitsrat der UNO bekommen. Die gesamte UNO wird
dadurch als potentielles Schlichtungs- und Vermittlungsorgan geschwächt. Die
internationale Rechtsordnung, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte
und in der UN-Charta fixiert wurde, würde unterminiert. Dies bedeutete eine Rückkehr zum
militärpolitischen "Faustrecht", wie es in den dreißiger Jahren praktiziert
wurde. Wenn die NATO in einem bestimmten Konflikt für sich ein Interventionsrecht geltend
macht, könnten andere Staaten diesem Beispiel folgen und mit einer Gegenmandatierung
reagieren. Oder - in einem anderen Konflikt - ebenfalls für sich eine Selbstmandatierung
reklamieren.
Gründe lassen sich immer finden
"(..) NATO will either develop the strategy and structure to go `out of area` or it
will `go out of business`," erklärte der amerikanische Senator Richard G. Lugar
bereits 1993 zur Ausweitung des NATO-Aufgabenspektrums. Die Suche der NATO nach einer
Existenzberechtigung überschattet die Strategieentwicklung. Sicherte während des Kalten
Krieges allein eine imaginäre äußere "Bedrohung" den Zusammenhalt der NATO,
so traten bei der Strategiekonzeption von 1991 "Risiken" hinzu und heute reicht
nicht einmal mehr dies zur Legitimierung aus. Stattdessen soll die NATO-Einsatzschwelle
zukünftig auf die Wahrung der gemeinsamen "Interessen" abgesenkt werden. Nicht
nur Krisenmanagement, schon Krisenprävention soll zum Aufgabenspektrum der Allianz
gehören. Militärische Einsätze gemäß ihrer ursprünglichen Bestimmung zur kollektiven
Territorialverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs gemäß Artikel 5 des
NATO-Vertrages sind unwahrscheinlich oder gar obsolet geworden. Die historischen
Entwicklungen in Europa seit Ende des Kalten Krieges haben sich um diese ursprüngliche
Bestimmung der NATO nicht geschert. Auch deren geographische Begrenzung aus Artikel sechs
des NATO-Gründungsvertrages soll mit der Ausrichtung auf Interessenpolitik gesprengt
werden. Während der ehemalige Bundesverteidigungsminister Rühe ein "Krisen- und
Konfliktpotential im strategischen Dreieck Balkan, Kaukasus und Nahost/Nordafrika"
ausmachte, sieht US-Außenministerin Madeleine Albright eine Zuständigkeit der NATO
"vom Nahen Osten bis nach Zentralafrika". US-Senatoren diskutieren öffentlich
darüber, dass NATO-Truppen am Golf oder in der Straße von Taiwan künftig helfen sollen,
die Politik Washingtons durchzusetzen.
"Interessenwahrung" als NATO-Aufgabe
Im Rahmen der Strategieentwicklung soll der Washingtoner Vertrag allerdings nicht
geändert werden. Während die alte "Kernfunktion" Bündnisverteidigung ihren
rechtsverbindlichen Charakter aus dem Vertrag beibehält, soll nun die zweite
"Kernfunktion" Interessenwahrung hinzutreten, die aber nur in der zukünftigen
NATO-Strategie festgeschrieben wird. Damit
wird die NATO zu einer Militärallianz auf folgender Basis: Eine rechtliche Verpflichtung
der Mitgliedsstaaten zum Handeln besteht nur für den unwahrscheinlichen Fall der
Bündnisverteidigung, während für den wahrscheinlichsten Fall von NATO-Operationen
out-of-area keine vertragliche Verpflichtung besteht. Die USA und Großbrtitannien konnten
sich diesbezüglich nicht durchsetzen. Auseinandersetzungen im NATO-Rat über die konkrete
Durchführung von Militärinterventionen sind damit vorprogrammiert.
Die USA preschen voran. Prinzipiell sind sie auch weiterhin bereit, die UNO immer dann als
Interventionsinstrument nutzen, wenn der UN-Sicherheitsrat der Erteilung eines Mandates
zustimmt. Scheitert dieser Versuch am Widerstand Russlands oder Chinas, versuchen sie die
NATO zu instrumentalisieren. Scheitert auch dies, intervenieren die USA mit einzelnen
Bündnispartnern oder unilateral. So können die USA die verschiedenen internationalen
Organisationen gegeneinander ausspielen und bestimmen im Krisenfall deren Agenda. Die USA
haben für sich sichergestellt, dass sie, wann immer sie intervenieren wollen, auch
zuschlagen können, ohne zwangläufig allein des Völkerrechtsbruch angeklagt zu werden.
Offen bleibt nur die Frage, mit welcher internationalen Beteiligung. Damit betreibt die
US-Administration auf dem Feld der internationalen Organisationen auch eine
"Flurbereinigung": Institutionen, in denen sie maßgeblichen Einfluss hat,
werden protegiert, während die Organisationen, in denen dies nicht der Fall ist,
marginalisiert werden.
Die Strategiedebatte innerhalb der NATO in den letzten Monaten hat gezeigt, dass die USA
mit der vollen Unterstützung der britischen Regierung rechnen können. Frankreich
opponiert am vehementesten und besteht auf einem Mandat des UN-Sicherheitsrates. Auch die
deutsche Bundesregierung bevorzugt eine UN-Mandatierung, will aber im Einzelfall auch ein
unilaterales Vorgehen der NATO nicht prinzipiell ausschließen. Welcher Ansammlung von
"Einzelfällen" die rotgrüne Bundesregierung und ihre Nachfolger letztlich
zustimmen werden, bleibt abzuwarten. Für die deutsche Regierung geht es also nicht
prinzipiell darum, dass Völkerrecht zu achten, sondern sie bestimmt von Fall zu Fall, ob
es eher opportun ist mit den USA oder mit Frankreich zu votieren. Zwar entscheiden die
NATO-Staaten gleichberechtigt im Konsens, aber die kleineren Mitgliedsländer halten sich
traditionell für zu klein, um von ihrem demokratischen Recht auf eine abweichende Meinung
Gebrauch zu machen und gegen die großen USA zu votieren. Von Norwegen, Dänemark und
Belgien vorgebrachte Bedenken können sich allerdings in einer abgemilderten, der
jeweiligen nationalen Interpretation offenstehenden Diktion des fertigen
NATO-Strategiepapiers niederschlagen.
Präzedenzfall Kosovo
Schon im Verlauf der bisherigen NATO-Strategiedebatte wurde gleich ein neuer
Präzedenzfall geschaffen. In der Kosovo-Krise erklärte die NATO erstmals ihre
Bereitschaft, ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates zu intervenieren. Russland hatte aus
Angst vor einer territorialen Ausweitung des Konfliktes im Sicherheitsrat nur Maßnahmen
gemäß der UN Resolution 1199 vom 23. September 1998 erlauben wollen: Darin werden die
UNO-Mitgliedsstaaten aufgefordert, "substantielle Mittel für humanitäre
Hilfsmaßnahmen bereitzustellen". Auch der deutsche Bundestag genehmigte in einer
Debatte am 16. Oktober 1998 eine Beteiligung von vierzehn Tornados ECM der
Bundeswehr an diesem illegalen Kampfeinsatz außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der
NATO: 500 Abgeordnete stimmten mit "Ja", darunter auch die Mehrheit der Grünen.
Vier Tage später legten die Regierungsfraktionen in ihrem Koalitionsvertrag fest,
"das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu
bewahren". Klarer konnte der Widerspruch zwischen Taten und Worten kaum zum Ausdruck
gebracht werden.
Der Beitrag wurde von der Redaktion leicht gekürzt.
Gerhard.Piper ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter bei BITS und Mitglied der Redaktion der antimilitarismus information (ami).
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