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Januar 1999
Friedensforum 1/99 |
NATO ohne Atomwaffen?
Oliver Meier
Gegenwärtig bietet sich der Friedensbewegung eine Gelegenheit, die so
schnell nicht wiederkehrt: Sie kann dazu beitragen, die NATO atomwaffenfrei zu
machen. Anläßlich ihres fünfzigsten Geburtstages auf dem Gipfeltreffen am 24./25.
April 1999 will die NATO ein neues Strategisches Konzept verabschieden, in dem auch die
künftige Rolle der Atomwaffen in der NATO festgeschrieben wird. Ob die neue
Nukleardoktrin auf eine Auf- oder Abwertung von Kernwaffen hinauslaufen wird, ist
vorläufig offen.
Schon jetzt können Friedensbewegung und Nichtregierungsorganisationen
einen wichtigen Erfolg verbuchen, denn die USA und einige andere Staaten sind mit ihrer
Strategie gescheitert, eine öffentliche Diskussion um die Bedeutung von Kernwaffen zu
verhindern. Der Streit um eine Auf- oder Abwertung von Kernwaffen in der NATO wird
mittlerweile sogar auf höchster politischer Ebene geführt. Zwar erntete Joschka
Fischer als er auf der Tagung der NATO-Außenminister am 7./8. Dezember in Brüssel
anregte, die Frage des nuklearen Ersteinsatzes gemeinsam und offen zu diskutieren, von
seiner amerikanischen Amtskollegin eine herbe Abfuhr. Fischer schilderte aber nach
dem Treffen, daß viele seiner Kollegen ihm klammheimlich Zustimmung signalisiert hätten.
Neue Legitimation oder Abwertung von Kernwaffen
Jenseits der politischen Rhetorik um den nuklearen Ersteinsatz geht es
in der Debatte um die künftige Rolle von Kernwaffen in der NATO darum, ob diese Waffen
neue Aufgaben bekommen, oder ob ein erster Schritt in Richtung auf ihre Abschaffung getan
wird, indem Kernwaffen abgewertet werden. Für die Angloamerikaner sollen
NATO-Atomwaffen künftig auch der Abschreckung von Staaten dienen, die über biologische,
chemische oder nukleare Waffen verfügen. Dabei wird der Atomwaffeneinsatz als
Vergeltung für einen Angriff auf die NATO mit ABC-Waffen explizit nicht
ausgeschlossen. Auch andere Einsatzmöglichkeiten werden diskutiert: Ein
amerikanisches Planungsdokument aus dem Jahr 1996 belegt, daß US-Nuklearstrategen sich
Gedanken über die nukleare Abschreckung von "nichtstaatlichen Akteuren", also
zum Beispiel Terroristen machen. Zudem fordern einige Nuklearwaffenplaner, die
Option auf den präventiven Atomwaffeneinsatz grundsätzlich offenzuhalten. Sie
argumentieren, daß Kernwaffen in bestimmten Fällen militärisch unersetzbar sind,
beispielsweise wenn es darum geht, schwer verbunkerte Bestände an
Massenvernichtungswaffen zu zerstören.
Einige andere NATO-Staaten hingegen kritisieren, daß ein Festhalten am
Besitz von Kernwaffen oder gar eine Aufgabenerweiterung den Weg in eine Welt ohne
Massenvernichtungswaffen versperrt und im Gegenteil andere Staaten sogar zur Proliferation
ermutigen könnte. Diese NATO-Staaten weisen darauf hin, daß gerade nach den
indischen und pakistanischen Atomtests im Mai 1999 deutlich geworden ist, daß viele
Staaten nicht mehr bereit sein könnten, auf den Atomwaffenbesitz zu verzichten, wenn die
militärisch überlegenen Staaten des Westens noch nicht einmal bereit sind, den nuklearen
Ersteinsatz aufzugeben. Kanada erhob als erstes NATO-Mitglied öffentlich die
Forderung nach einer grundlegenden Überprüfung der NATO-Atomwaffenpolitik. Der
kanadische Außenminister Lloyd Axworthy mahnte auf der Tagung des NATO-Rates, daß die
NATO-Staaten beim Schreiben des neuen Strategischen Konzeptes darauf achten sollten, wie
andere dieses Dokument wahrnehmen: "Wir sollten vorsichtig hinsichtlich des
politischen Wertes sein, den wir dem NATO Nuklearpotential beimessen, denn wir laufen
sonst Gefahr, Proliferationskandidaten Argumente zu liefern, die diese zur Rechtfertigung
ihrer eigenen Atomwaffenprogramme anführen können."
Ideen von gestern für die Strategie von morgen?
Die unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung von Kernwaffen
für die Allianz machen eine Anpassung der bestehenden Nukleardoktrin schwierig. Bis
heute gilt das 1991 in Rom verabschiedete "Strategische Konzept" der NATO, in
dem noch von der Sowjetunion die Rede ist. Darin wird der Zweck von Nuklearwaffen
als "politisch" beschrieben, denn diese dienten der "Wahrung des Friedens
und Verhinderung von Zwang und jeder Art von Krieg". Das Dokument machte damals
wenig Hoffnung, daß die NATO eines Tages ohne Atomwaffen auskommen könne. Die
NATO-Mitglieder beschlossen 1991, daß "nukleare Streitkräfte (...) weiterhin eine wesentliche
Rolle spielen (werden), indem sie dafür sorgen, daß ein Angreifer im Ungewissen
darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren
würden. Sie machen deutlich, daß ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige
Option ist". Kernwaffen seien die "oberste Garantie für die
Sicherheit der Verbündeten". (Hervorhebungen der Autor)
Dieser politischen Hervorhebung der Rolle von Atomwaffen steht die
drastische Reduzierung der Zahl der in Europa stationierten Kernwaffen seit 1990
gegenüber. Wahrscheinlich lagern heute nicht mehr als 180 taktische US-Atombomben
in Europa, verteilt auf Stützpunkte in Belgien, Deutschland, Griechenland,
Großbritannien, Italien, den Niederlanden, und der Türkei. Jeder dieser Staaten
mit Ausnahme Großbritanniens hält eigene Flugzeuge bereit und trainiert seine Piloten
ständig, um im Kriegsfall amerikanische Atomwaffen ins Ziel zu bringen. Zudem sind
bestimmte seegestützte Kernwaffen der USA und Großbritanniens der NATO zugeordnet.
Alle NATO-Staaten sind berechtigt, an Beratungen über nukleare Einsatzplanung und Doktrin
teilzunehmen. Im Ernstfall muß nicht nur der amerikanische Präsident den
Atomwaffeneinsatz befehlen, sondern es müssen auch alle an der "nuklearen
Teilhabe" partizipierenden Staaten auf ein Veto verzichten, damit NATO-Atomwaffen zum
Einsatz freigegeben werden. Bei der Anpassung der Nukleardoktrin geht es auch um die
Reform oder das Ende dieser "nuklearen Teilhabe", die im "Strategischen
Konzept" von 1991 als unverzichtbar beschrieben wird: "Ein glaubwürdiges
nukleares Streitkräftedispositiv des Bündnisses und die Demonstration von
Bündnissolidarität und gemeinsamem Bekenntnis zur Kriegsverhinderung erfordern auch in
Zukunft breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter europäischer
Bündnispartner an nuklearen Aufgaben, der Stationierung von Nuklearstreitkräften auf
ihrem Hoheitsgebiet im Frieden und an Führungs-, Überwachungs- und
Konsultationsvorkehrungen." Welche Möglichkeiten zur Reform der
NATO-Nukleardoktrin bestehen dann?
Möglichkeiten der Reform
Die Aufgabe des nuklearen Ersteinsatzes in der NATO ist gegenwärtig
nur schwer durchzusetzen, weil Entscheidungen innerhalb der NATO im Konsens getroffen
werden. Aber es gibt andere, wichtige Anpassungen, die signalisieren können, daß
die NATO bereit ist, die Bedeutung atomarer Waffen weiter zu reduzieren und Atomwaffen
später ganz aufzugeben. 1990 war schon einmal kurz in NATO-Dokumenten die Rede
davon, daß Atomwaffen lediglich "letztes Mittel" ("last resort") zur
Verteidigung der Bündnismitglieder sei. Die Wiedereinführung dieses Ausdrucks
würde signalisieren, daß zumindest der präventive Einsatz von Kernwaffen ausgeschlossen
wird. Zudem könnte die Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes auf den Fall der
nuklearen Vergeltung und Situationen beschränkt werden, in denen eine Existenzgefährdung
für einen oder mehrere NATO-Staaten vorliegt. Dies würde auch einer Erklärung
negativer Sicherheitsgarantien gegenüber allen Nichtkernwaffenstaaten gleichkommen und
ein wichtiges politisches Symbol senden. Ein solcher Schritt würde zudem eine
Annäherung an das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom Juli 1996 bedeuten, in dem
die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen und deren Einsatz als völkerrechtswidrig
erklärt wurde.
Schließlich gibt es eine Reihe konkreter Maßnahmen, die nicht nur die
Gefahr durch Atomwaffen verringern, sondern zudem signalisieren, daß die nukleare
Abrüstung weiter vorangetrieben wird. So ist es höchste Zeit, die in Westeuropa
und Rußland noch vorhandenen taktischen Atomwaffen endlich in Abrüstungsverhandlungen
einzubeziehen und zwar unabhängig davon, ob der START-II-Vertrag in Kraft tritt.
Eine solche Einbeziehung taktischer Atomwaffen in die Rüstungskontrolle ist im Prinzip
bereits seit März 1997 zwischen den USA und Rußland vereinbart. Ein Abzug der noch
in Westeuropa verbleibenden amerikanischen Atomwaffen im Rahmen einer vertraglichen
Abrüstungsvereinbarung wäre auch denkbar, ohne daß die mit der "nuklearen
Teilhabe" verbundenen politischen Konsultationsmechanismen aufgegeben werden
müssen.
Eine solche Abwertung von Kernwaffen würde bestehende
Rüstungskontrollverträge stärken und es zudem Staaten wie Indien und Pakistan schwerer
machen, zu argumentieren, daß ihre Atomwaffenprogramme nur eine Reaktion auf den
fehlenden Abrüstungswillen der fünf alten Kernwaffenstaaten seien. Sollte die NATO
hingegen an ihrer jetzigen Nukleardoktrin festhalten oder gar die nukleare Abschreckung
auf neue, nichtnukleare Konflikte ausdehnen, dann wird sich die Krise in der
Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik weiter verschärfen. Genug Grund für die
Friedensbewegung, das in den achtziger Jahren begonnene Projekt eines atomwaffenfreien
Europas ein gutes Stück voranzubringen, indem Druck auf die Regierungen in allen
NATO-Staaten ausgeübt wird, sich aktiv für eine Reduzierung der Rolle von
NATO-Atomwaffen einzusetzen.
Oliver Meier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Berliner
Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) in Genf.
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