Freitag
31. März 2011


Operation am offenen Herzen

Die NATO hat das Oberkommando für die Militäroperationen übernommen und verschafft dem Prinzip Schutzverantwortung einen Präzedenzfall

von Otfried Nassauer

Erst eine Woche des erbitterten Streits, dann aber passiert es. Ob beim Waffenembargo, beim Flugverbot oder Schutz der Zivilbevölkerung – die westliche Allianz führt nun alle Militäroperationen in Libyen, ohne auf den schnellen Erfolg zu rechnen. Die NATO plant für einen etwa dreimonatigen Einsatz und zieht die Entscheidung über viele strittige Fragen an sich: Wie weit geht das Mandat des Sicherheitsrates? Was ist das Ziel der Operation? Der Schutz der Zivilbevölkerung und ein möglichst baldiger Waffenstillstand, wie das der Resolution 1973 (2011) zu entnehmen ist? Oder doch eine weitgehende Zerschlagung von Gaddafis Militär und die Unterstützung der Rebellen? Oder gar ein durch militärische Übermacht erzwungener regime change, wie es George W. Bush genannt hätte?

Mehr noch: Das Bündnis übernimmt die Verantwortung für einen Präzedenzfall einer neuen Form der Intervention aus humanitären Gründen. Darauf wird man sich künftig immer dann beziehen, muss entschieden werden, ob und wann die internationale Gemeinschaft darf, was die UN-Charta nicht vorsieht: Die militärische Einmischung in innere Angelegenheiten eines Mitgliedstaates – es geht um eine Operation am offenen Herzen des Völkerrechts.


Konzert voller Kakophonien

Am Anfang stand eine handfeste Überraschung: Der Sicherheitsrat erteilte das Mandat für eine Flugverbotszone über Libyen und den Schutz der Zivilbevölkerung mit allen erforderlichen Mitteln. Zehn Mitglieder stimmten dafür, fünf enthielten sich – kein Veto. Niemand wollte die Verantwortung dafür übernehmen, dass es gegen einen Diktator, der die Opposition seines Landes an den Rand des Zusammenbruchs bringt und ihr blutige Rache schwört, keinen Militäreinsatz gibt.
Ein Durchbruch für die Vorstellung, dass Interventionen aus humanitären Gründen künftig völkerrechtlich zulässig sind? Für das rechtliche Konstrukt der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft (responsibility to protect), wenn Völkermord, Massenvertreibungen und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen? Der UN-Gipfel von 2005 hatte in vorsichtiger Form positiv auf dieses Konzept reagiert, das westliche Staaten nach dem Kosovo-Krieg entwickelten, um in ähnlichen Fälle künftig einen rechtlichen Anknüpfungspunkt zu haben. Explizit angewendet wurde es bislang nicht. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon nannte den Libyen-Beschluss wohl auch dehalb eine „historische Bestätigung“ der internationalen Verantwortung, Menschen vor der Gewalt ihrer eigenen Regierung zu schützen. Und Nicolas Sarkozy warnte schon einmal andere arabische Despoten: „Jeder Herrscher muss verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die Gleiche sein wird.“ Das klang nach einem Durchbruch.

Doch dann kam es zum offenen Streit. Binnen Tagen führte die Koalition der Schutzwilligen ein Konzert voller Kakophonien auf, während zugleich mit massiven Bombardements begonnen wurde. In fünf Tagen gab es mehr als 600 Einsätze gegen die libysche Luftverteidigung, die Luftwaffe, Kommandozentralen und vor allem gegen Bodentruppen, deren Versorgung und Infrastruktur. Waren derartige Angriffe durch das Mandat gedeckt? Ging es weniger um den Schutz der Zivilbevölkerung als um Flankenschutz für bewaffnete Rebellen? Oder gar den Sturz Gaddafis?


Beginnende Irrfahrt

Erbittert gestritten wurde auch über die politische und militärische Führung der Operation. Frankreich wollte koordinieren, wenn nicht führen, die USA ihre anfängliche Führungsrolle möglichst rasch an die NATO abgeben. Das aber missfiel in Paris und Ankara. Die Türkei präferierte eine Führung durch die UNO, Frankreich dagegen durch sich selbst – oder die EU. Tagelang werkelte die NATO an einem Kompromiss, bis sie schrittweise die Führung der Operation übernahm, auch bei den umstrittenen Angriffen auf Bodenziele. In der westlichen Allianz zeigten sich tiefe Brüche, weil Frankreich und Großbritannien einen intensiven, auch militärischen Beistand für das Anti-Gaddafi-Lager befürworteten und offen ließen, ob die westlichen Militärschläge auf den Sturz des libyschen Staatschefs zielten und Bodentruppen zum Einsatz kommen sollten. Begrenztere Ziele deuteten sie erst an, als dadurch eine Zerreißprobe der NATO heraufbeschworen war. Die US-Regierung hatte von Anfang an gezögert, sie teilte zwar die Forderung nach Gaddafis Rücktritt, wollte aber dem Aufstand in Libyen keinen amerikanischen Stempel aufdrücken, der ihn desavouieren könnte. Trotzdem verweigerte Präsident Obama den Partnern in Paris und London keineswegs die Solidarität. So verhinderten die USA – da nur sie in kürzester Zeit die entsprechenden militärischen Fähigkeiten mobilisieren konnten – eine vollständige Niederlage der libyschen Opposition.

Doch nun übernimmt die NATO das Kommando, damit der „Präzedenzfall Libyen“ nicht unter französischer Führung, sondern unter Aufsicht amerikanischer NATO-Generäle ausgestaltet wird. Deutschland will sich daran ebenso wenig beteiligen wie einige osteuropäische Bündnisgenossen. Über allem steht die Frage, ist ein Militärpakt der geeignete Rahmen, einen völkerrechtlichen Präzedenzfall zu schaffen. Man könnte argumentieren: Wer, wenn nicht die NATO? Dort gibt es eingeübte Verfahren der Konsensbildung. Wenig dringt nach außen. Fallen Entscheidungen, so werden die von mindestens 28 Staaten getragen. Das mag stimmen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass zentrale politische und völkerrechtliche Fragen ausgerechnet an ein Militärbündnis delegiert werden.

Bleibt es unter diesen Umständen bei den Widersprüchen in der Allianz, und gibt es keinen schnellen Triumph in Libyen, droht Schaden. Helfen könnte dann nur ein Rücktritt Gaddafis oder der rasche Zusammenbruch seines Regimes. Ein solcher Erfolg wäre geeignet, internen Streit zu überstrahlen. Vorausgesetzt, zwischen Benghazi und Tripolis entsteht bald eine neue und stabile politische Ordnung. Geschieht keines von beidem, könnte die Operation Odyssey Dawn (Odyssee Morgendämmerung) zu einer beginnenden Irrfahrt werden. Es sei denn, der westliche Interventionismus lenkt von Libyen ab, indem er sich nach neuen Schauplätzen umsieht. Vielleicht ruft Frankreichs Präsident zum Kreuzzug gegen den Syrer Bashar al-Assad.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS