Seltene Dinge tun sich in deutschen Landen. Alle sind sich einig: Die Bundeswehr muß kleiner werden. Sie bedarf einer grundsätzlichen Neuausrichtung. So wie bisher geht es nicht weiter. Das Ende der Sackgasse ist in Sicht. Doch sogleich wird es wieder typisch deutsch. Alle sind uneinig. Um wieviel soll die Bundeswehr kleiner werden? Welche Aufgaben sollen künftig im Vordergrund stehen? Wehrpflicht oder Berufsarmee? Welche und wieviel moderne Ausstattung braucht die Bundeswehr dafür? Der bundesdeutsche, manchmal rheinisch genannte Kapitalismus kennt für solche Fälle eine angemessene Lösung: Wenn der Reformstau die Gefahr der Handlungsunfähigkeit immanent werden läßt, dann wird eine honorige Kommission aus Vertreter(Inne)n wichtiger gesellschaftlicher Kräfte einberufen, um eine langfristig tragfähige und gesellschaftlich konsensfähige Lösung anzuarbeiten also so etwas wie einen partiellen Gesellschaftsvertrag. Und die Politik verspricht, sich an den Empfehlungen der Honorablen später gründlich zu orientieren. So auch diesmal: Die Kommission stand unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker. Ihre Aufgabe war es, bis zum Mai 2000 Empfehlungen für die Entwicklung der Bundeswehr bis zum Jahre 2010 vorzulegen. Und ebenso typisch deutsch: Parallel zu den Arbeiten der Honorablen-Kommission wurde Generalinspekteur von Kirchbach beauftragt, Vorschläge zur Reform der Bundeswehr aus Sicht des Verteidigungsministerium zu präsentieren. Doppelt genäht hält schließlich besser und erweitert den Handlungsspielraum des politisch Entscheidenden. Der 23. Mai: Die Kommission unter Vorsitz von Weizsäckers präsentiert ihre Ergebnisse. Der Generalinspekteur ebenso. Die Kommission entwirft das Bild einer Bundeswehr, die Landesverteidigung als Bündnisverteidigung an den Grenzen der NATO plant, voll zu militärischen Krisenmanagement-Einsätzen im Rahmen von EU uind NATO befähigt und technologisch von Grund auf modernisiert ist. Sie hätte im Jahre 2006 240.000 Soldaten, 140.000 sind für Einsätze außerhalb der Landesgrenzen augebildet; zwei parallele Auslandseinsätze können durchgeführt werden. Die Integration der Bundeswehr in künftige europäische Strukturen wird vorbereitet. Die Wehrpflicht wird Auslaufmodell. Für 30.000 Wehrpflichtige wäre Platz in dieser Bundeswehr. Ganz anders der Generalinspekteur: Er schlug eine Bundeswehr mit 290.000 Soldaten vor, 157.000 davon für Auslandseinsätze ausgebildet. Der Rest: Die Grundstruktur einer aufwuchsfähigen Territorialverteidigung, mit 85.000 Wehrpflichtigen. Das Ziel: Die Bundeswehr in EU und NATO aufzuwerten, bei Kriseneinsätzen die Fähigkeit der Führungsnation (lead nation) übernehmen können. Eine umfassende technische Modernisierung der Bundeswehr ist deshalb ebenfalls Bestandteil: Bundeswehreigene Satellitenaufklärung, strategische Transportfähigkeit, neue Führungs- und Kommunikationsmittel, Präzisions- und Abstandswaffen, Raketenabwehrsysteme und vieles andere mehr sind vorgesehen. Kanzler und Verteidigungsminister nehmen die Kommissisonsarbeit entgegen, verabschieden die Mitglieder mit aufrichtigem Dank für die geleistete Arbeit. Gleiches widerfährt dem Generalinspekteur. Er wird vorzeitig in den Ruhestand entlassen. Denn der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, Bundesverteidigungsminister Scharping, wandelt seit geraumer Zeit auf eigenen Pfaden. Vollauf über das Denken und die Zwischenergebnisse beider Arbeitsgruppen informiert, hat er den Chef seines Planungstabes (und künftigen Generalinspekteur), Kujat, mit der Entwicklung eines dritten Konzeptes beauftragt das künftige Ministerkonzept. Hier wird alles eingearbeitet, was der Minister und sein engsten Planer an den anderen Konzepten attraktiv finden. Das Ergebnis, Anfang Juni präsentiert wie ein Phoenix aus der Asche: Die eierlegende Wollmilchsau, das Traditionsprodukt deutscher Bundeswehrplaner. Ein Konzept, das vorgibt, keine Wünsche offen zu lassen, alle Bedürfnisse zu befriedigen. 277.000 Soldaten, ein Zahl zwischen Kommission und Generalinspekteur. Darunter 70.000 Wehrpflichtige für die Liebhaber derselben. Zudem 150.000 "Einsatzkräfte" für das Krisenmanagement - zwei Kontingente a 10.000 Mann für Kriseninterventionen von NATO und EU. Für die Befürworter derselben. Eine 105.000 Mann umfassende "Militärische Grundorganisation". Verteidigungsumfang: 500.000 Soldaten - für die Anhänger der Territorialverteidigung. Auch die technologische Modernisierung wird nicht vergessen. Eine "eigene raumgestützte Aufklärungsfähigkeit" samt "Kommando Strategische Aufklärung" für die Bundeswehr (was sagen da bloß Außen- und Kanzleramt?) - Aufklärungssatelliten für all jene, die nicht länger von den Daten anderer abhängig sein wollen. Eine Verbesserung der strategischen Transportfähigkeit 75 neue Transportflugzeuge und drei große Einsatztruppen-Unterstützungsschiffe für jene, die Dickschiffe und andere Prestigeprojekte brauchen. Verbesserte Führungs- und Kommunikationssysteme, Abstands- und Präzisionswaffen für die Liebhaber von modernster High-Tech. Und eine umfassendes Laufbahnattraktivitätsprogramm für den Bundeswehrverband. Das charakteristische Kennzeichen der Scharping-Vorschläge: Es hat für alle Partikularinteressen etwas zu bieten. Jeder bekommt etwas - versprochen. Dies mag in der Bundeswehr attraktiv sein, macht aber deutlich: Eine zukunftsfähige, attraktive Bundeswehr und Planungssicherheit entstehen auf diesem Wege nicht. Dazu fehlt schlicht das Geld bzw. angesichts des mangelnden Reformwillens bei Minister und seiner Generalität die politische Bereitschaft, den Verteidigungshaushalt deutlich zu erhöhen. Rudolf Scharpings Konzept passierte das Kabinett, wenn auch mit Bedenken und neu angezogenen Daumenschrauben. Ganze vier Seiten, angereichert mit haushaltsplanerischen Vorbehalten blieben übrig. Kaum einer glaubt ernsthaft, daß es im Rahmen der Finanzplanung realisiert werden kann. Der Minister hat auf die Vorlage detaillierter Zahlen verzichtet. Die will er diese Woche vorlegen, aber nur für den Haushalt 2001. Die fernere Zukunft der ursprünglich auf zehn Jahre angelegten Bundeswehrreform verbleibt im undurchsichtigen Grau des Nebels. Über sie darf weiter gerätselt werden. Längst gelten die Wetten der Fachleute, ob des Ministers Bundeswehrpläne 2003 oder 2004 mit dem Helm an die Decke des Haushalt stoßen - trotz Reform, aber nach der nächsten Bundestagswahl. Doch, Halt! Die öffentlich strittigen Themen Wehrpflicht, Umfang, Kosten oder Bündnisverteidigung versus oder Interventionsarmee verhindern die eigentlich notwendige Auseinandersetzung. Wofür das alles? Welche Bundeswehr braucht die Bundesrepublik künftig? Und wozu? Dieser entscheidenden Frage hatten sich die Kommission unter Richard von Weizsäcker und überraschenderweise Bündnis 90/Die Grünen am offensten gestellt. Sie kamen deshalb - weniger überraschend - zu recht ähnlichen Ergebnissen. Ausgangspunkt war beiden die Überlegung, daß sich die Aufgabe der Landesverteidigung künftig nur noch im Rahmen der Bündnisverteidigung an den Außengrenzen der NATO mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit stellt. Darüberhinaus stelle sich die Aufgabe des militärischen Krisenmanagements in Europa und an den Rändern Europas. Für beide Aufgaben werde die Bundeswehr im internationalen Verbund zum Einsatz kommen. Die fortschreitende Integration der Sicherheitspolitik auf Europäischer Ebene werde diesen Trend verstärken. Die logische Konsequenz: Wenn die Bundeswehr wirklich eingesetzt wird, dann fast zwangsläufig im Ausland ob zur Bündnisverteidigung oder zum Krisenmanagement. Zugleich: Ein Einsatz im Rahmen der Bündnisverteidigung würde voraussichtlich größer ausfallen, wäre aber unwahrscheinlicher und würde voraussichtlich kürzer dauern. Die Streitkräfte der NATO sind allen potentiellen Angreifern weit überlegen. Über Einsätze des militärischen Krisenmanagements wird dagegen voraussichtlich häufiger zu entscheiden sein. Der deutsche Beitrag könnte kleiner ausfallen, würde aber oft auf längere Zeit erforderlich sein. Und: Jene technischen und logistischen Fähigkeiten, die die Bundeswehr zur Bündnisverteidigung z.B. der Türkei benötigt, würden sich für alle Einsätze militärischen Krisenmanagements in Europa und an dessen Rändern als jederzeit ausreichend erweisen. Beide Konzepte mußten sich deshalb mit dem Vorwurf des "Interventionismus" auseinandersetzen, obwohl sie für Kriseneinsätze zwar weniger Soldaten wohl aber einen größeren prozentualen Anteil der Bundeswehr vorsahen als die Konzepte aus dem Verteidigungsministerium. Und obwohl sie solche Einsätze in einer begrenzteren Geographie befürworteten als des Ministers Generale, die bis heute auch signifikante Kapazitäten für weiter entfernte Operationen bereithalten wollen. Kommssion und Grüne wurden kritisiert, weil alleine sie ohne Umschweife aufgewiesen hatten, vor welchen Aufgaben die in NATO und EU eingebundene Bundeswehr künftig wahrscheinlich gestellt sein wird und über welche Formen von Bundeswehreinsätzen deutsche Politik künftig am häufigsten entscheiden muß. Zugleich war es nicht ganz unberechtigt, daß Kommission und Grüne kritisiert wurden, hatten doch auch sie die wichtigste Folgefrage einer solchen realistischen Analyse weitgehend ausgeblendet. Wenn die Bundeswehr der Zukunft von ihrer Struktur her Interventionen künftig erlaubt, dann gewinnt eine Frage an Gewicht, der sich Deutsche Politik in den vergangenen 50 Jahren schon aus historischen Gründen - kaum widmen mußte: Wann und unter welchen Bedingungen, Umständen und Voraussetzungen darf und soll die Bundeswehr eingesetzt werden? Wann sollte ihr Einsatz unterbleiben? Diese Gretchenfrage nach der "politischen Einhegung" künftiger Einsätze der Bundeswehr muß gestellt werden. Es kann nur verwundern, daß sie in jenem Gremium, das Bundeswehreinsätze beschließt und verantwortet, dem Bundestag, bis heute nicht zu einer Kernfrage geworden ist. Für diese strategische Lücke kann es verschiedene Gründe geben. Erstens: Sie ist niemandem aufgefallen. Das wäre ein Armutszeugnis für die Demokratie in Deutschland. Die Legislative kann eine solche Frage einfach nicht ausklammern. Zweitens: Die Frage ist zu heikel und zu komplex. Man fürchtet, es gebe keine allgemeingültige Antwort. Dies wäre teils verständlich, würde aber nicht erklären, warum nicht einmal an verallgemeinerbaren Kriterien gearbeitet wird, die auf jede Entscheidung über einen Bundeswehreinsatz angewendet werden könnten. Drittens: Es gibt ein Interesse, keine Anwort zu geben. Dies wäre spannend. Es gibt Hinweise, daß es sich so verhält. Welches Interesse könnte eine Antwort unklug erscheinen lassen? Eine Episode kann helfen. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde die Gretchenfrage künftiger deutscher Sicherheitspolitik erstmals gestellt und ein Antwortversuch unternommen. Es war der Bundesvorstand der Bündnisgrünen, der sich der Frage annahm. In dem Bestreben, klare politische Grenzen für Interventionen zu formulieren, einigte man sich, daß Kriterien für den Einsatz der Bundeswehr vonnöten seien, damit "die Bundeswehr nicht im Kontext klassischer Interventionen" oder aus falsch verstandener Nibelungentreue im Rahmen militärischer Bündnisse eingesetzt werden könne. Klare Kriterien trügen "auch dazu bei, daß der Beitrag der Bundeswehr zu den übergeordneten Zielen der Gewaltvermeidung und Gewaltminderung gewährleistet bleibt", daß Aktionen ohne UN-Mandat wie die NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien "eine einmalige Ausnahme bleiben". Zu den Kriterien, die diskutiert bzw. beschlossen wurden, gehört unter anderem, daß ein Bundeswehreisatz nur in Frage kommt, wenn
Das zweifellos wichtigste Kriterium neben dem UN-Mandat ist die Zweidrittelmehrheit des Bundestages, die analog zu Feststellung des Verteidigungsfalls, zustimmen muß. Der Hintergrund: Sie ist Rückversicherung auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz und gegen kurzatmige aus aktuellem Regierungshandeln geborene Versuche gerichtet, populistisch mit Bundeswehreinsätzen Tagespolitik zu machen. An diesem Kriterium der Zweidrittelmehrheit hängen Umfang, Zeitplan, Ziel und Begründungslogik. Und dann die Überraschung: Die Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen ändert genau diesen Passus, hält eine einfache Mehrheit für hinreichend. Man fragt sich, ob die Anregung dazu aus dem Außen- oder Verteidigungsministerium kam. Die tagespolitische Handlungsfreiheit der Regierung müsse erhalten bleiben. Vor exakt dieser entscheidenden Weiterung sind bislang sogar CDU/CSU und FDP zurückgeschreckt: Kriterien, dafür, wann die Bundeswehr militärisch zum Einsatz komme und wann nicht, seien nicht wünschenswert, weil sie das Regierungshandeln in der tagespolitischen. innenpolitischen Auseinandersetzung beschränken könnten. Deshalb sollten sie gar nicht erst aufgestellt werden. So utilitaristisch wird diese Frage bislang nur in den USA diskutiert. Allein, die Bündnisgrünen haben sich bislang der Frage angenommen. Sie werden sie weiter diskutieren. An diesem Wochenende zum Beispiel, während ihrer Bundesdelegiertenkonferenz. Man darf gespannt sein, ob die Bundestagsfraktion ihre Position überhaupt zur Abstimmung stellt oder ganz einfach mit "einfacher Mehrheit" regiert.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
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