Freitag
11. Mai 2001


Alle Macht den Raketen

Überlegene Abschreckung: George Bush führt Amerika in ein zweites Nuklearzeitalter

Otfried Nassauer

Hugh! George W. Bush, der kleine, große Häuptling hat gesprochen. Über seine umstrittenen Pläne für ein neues Raketenabwehrsystem, die Zukunft der Abschreckung und der nuklearen Abrüstung. Und was hat er gesagt? »Die Welt von heute braucht eine neue Politik«, »neue Konzepte der Abschreckung, die auf offensiven und defensiven militärischen Fähigkeiten beruhen«. Es sei möglich, schon »in naher Zukunft« erste, begrenzte Fähigkeiten zur Raketenabwehr zu stationieren, die später durch neue, bessere Technologien ergänzt werden können. Erforderlich sei ein neuer rüstungskontrollpolitischer »Rahmen«, »jenseits der Beschränkungen des 30 Jahre alten ABM-Vertrages«. Dieser Rahmen soll »weitergehende Reduzierungen der Nuklearwaffen« ermöglichen. Die USA sollten dabei »mit gutem Beispiel vorangehen, um ihre Interessen und die Interessen des Friedens in der Welt« zu erreichen.

Das war alles? Keine konkreten Zahlen, keine Zeitpläne? Weder für die Abrüstung noch für die Raketenabwehr? Nein, keine Details. Bush’s Rede ist ein Meisterwerk der »deliberate ambiguity« der absichtlichen Zwiedeutigkeit.

Liest man die Ankündigungen wohlwollend, so bieten sie eine Chance: Einseitige Abrüstungsschritte können den atomaren Abrüstungsprozess beschleunigen, insbesondere dann, wenn sie von den USA als stärkster Atommacht ausgehen. Russland kann künftig – sagen wir im Jahr 2015 – kaum noch 1.000, wahrscheinlicher noch weniger Atomwaffen finanzieren. Fachkundigen Beobachtern wie Steven Maaranen, der für US-Verteidigungsminister Rumsfeld die Überprüfung der Nuklearpolitik leitet, ist das nur allzu bewusst. Die USA können also mit gutem Beispiel vorangehen und neue Schritte einleiten, schneller als im START-Prozess vorgesehen abzurüsten.

Wohlwollend könnte man auch die Forderung nach einem neuen, rüstungskontrollpolitischen Rahmen, einer neuen Politik der Proliferationsverhinderung betrachten. Verträge, ob Miet- oder Rüstungskontrollverträge, werden nicht für die Ewigkeit geschlossen. Wäre das Ziel, ein besseres, verbindlicheres und wirksameres Instrumentarium der vertraglichen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung zu schaffen, so wäre es einen Versuch wert. Und natürlich wäre es wünschenswert, das Zeitalter der MADness, der Fähigkeit zu gesicherter gegenseitiger, nuklearer Zerstörung, hinter sich zu lassen wie Bush es fordert.

So weit, so schön, so gut. Die republikanische Wirklichkeit aber ist eine andere. Sie ist unilateral an den Interessen der USA und innenpolitisch klientelorientiert. Rüstungsindustrie, Militär und rechte Ideologiewächter – so unterschiedlich ihre Motive auch sein mögen – sie plädieren für einen anderen Weg. Es geht um nukleare Abschreckung aus der Position eigener Überlegenheit. Dieses Konzept will das Zeitalter »gegenseitiger gesicherter Verwundbarkeit« hinter sich lassen. Im Klartext heißt die Logik dieses zweiten Nuklearzeitalters: Abschrecken ohne abgeschreckt zu werden! Vertragliche Rüstungskontrolle? Ja, aber nur, wenn sie die eigenen Möglichkeiten abzuschrecken nicht beschränkt. Das geht nur ohne ABM-Vertrag. Und besser auch ohne den START-Prozess, denn einseitige Abrüstungsschritte erlauben mehr Flexibilität; sie sind umkehrbar.

Zudem: Die Chance, zusätzliche Mittel für neue, teure Rüstungsprojekte zu akquirieren, wittern unter Bush auch jene, die gerne neue Nuklearwaffen für das neue nukleare Zeitalter hätten. Die US-Luftwaffe hat bereits mit Arbeiten für eine neue Interkontinentalrakete begonnen, die Marine möchte eine neue Trident-Rakete. In den Atomwaffenlaboratorien wird über eine neue Generation atomarer Waffen nachgedacht: Präzise Langstreckenwaffen mit kleinen, atomaren Sprengköpfen zur Bekämpfung tief verbunkerter Ziele in aller Welt. Keine gegnerische Regierung soll sich selbst und ihre Massenvernichtungswaffen mehr sicher wähnen können.

In den kommenden Wochen will die Regierung Bush Freund und Feind konsultieren. Eine diplomatische Charme-Offensive, republikanische Sunshine-Politik? Hochrangige Delegationen reisen nach Asien und Europa, um für die Grundstrukturen des »neue Denkens« zu werben und Reaktionen, Bedenken und Kritiken einzusammeln. Außenminister Powell wird seinen russischen Amtskollegen Iwanow in Washington informieren. Ende Mai oder Anfang Juni will George W. Bush eine zweite sicherheitspolitische Rede halten und Details nachliefern. Wie viele Nuklearwaffen sollen wann abgerüstet, welche vertrauensbildenden Maßnahmen ergriffen werden? Wann und in welchen Schritten kommt das künftige, mehrschichtige Raketenabwehrsystem zum Schutze der USA und ihrer Verbündeten?

Schon der Zeitplan lässt erahnen, worum es bei den Konsultationen vorrangig geht: Die Feinabstimmung für Bushs zweite Rede. Mit welchen Details soll diese aufwarten und mit welchen besser nicht? Das stellt die Konsultierten angesichts der interpretierbaren ersten Rede vor ein großes Problem. Sie müssen präzise Argumente gegen mögliche konkrete Elemente der zweiten Rede formulieren.

Am deutschen Beispiel: Die Bundesregierung könnte nicht nur Fragen beantworten müssen, auf die sie vorbereitet ist – zur Zukunft der Rüstungskontrolle und zu Auswirkungen auf die Beziehungen zu Russland. Sie wird auch um Antworten auf unliebsame Fragen gebeten werden. Ist Deutschland beispielsweise bereit, an einem europäischen Raketenabwehrsystem gegen Bedrohungen aus 1.000 bis 3.000 Kilometer mitzuarbeiten? Ein solches System würde – anders als bisher geplante Raketenabwehrsysteme – das Territorium der Bundesrepublik schützen. Wäre Berlin dafür, ließe sich nur noch schwerlich dagegen argumentieren, dass auch Washington sein Territorium schützt. Die Falle ist längst gestellt. Sie wird wahrscheinlich auch zuschnappen.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).