Frankfurter Rundschau
30. Oktober 2004


Das Risiko vorbeugender Militärschläge wächst

Strategen empfehlen Israel massive Abschreckung / Atomtechnik in der Hand von Moslems unter Generalverdacht

von Otfried Nassauer


Die Töne werden schärfer. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht neue Meldungen und Gerüchte über das iranische Atomprogramm aufkommen. Die meisten fußen auf israelischen Quellen oder gehen auf einen kleinen Kreis Neokonservativer in den USA zurück. Es vergeht aber auch kaum ein Monat ohne neue militärische Drohungen. Israel bekundet seine Bereitschaft, die iranischen Atomanlagen präventiv zu zerstören. Iran droht, die israelische Atomanlage in Dimona anzugreifen und stellt neue Raketen in Dienst. Seit Irak als potentielle Bedrohung Israels ausgedient hat, wird Teheran an seine Stelle gerückt. Das ist - unabhängig von den realen Absichten Irans - wohl kaum Zufall.

Was den USA recht ist...

Bereits Anfang 2003 erhielt Ariel Scharon, Israels Ministerpräsident, einen brisanten Bericht. Das "Projekt Daniel" überreichte Empfehlungen zu "Israels strategischer Zukunft". Die hatten es in sich.

Israel, so empfahl das Dokument, müsse alles tun, damit sich keine "feindliche Allianz" bilde und in den Besitz von Massenvernichtungswaffen komme. "Dies könnte zweckdienliche präemptive konventionelle Schläge beinhalten, die sich gegen feindliche Zentren der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Kontrolle und Stationierung von Massenvernichtungswaffen" richten. Als "antizipierende Selbstverteidigung" sei dies mit dem internationalen Recht genauso vereinbar wie mit der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA. Was für die Weltmacht USA Recht sei, müsse für das kleine, existenzbedrohte Israel billig sein.

Israel solle seine Politik der Zweideutigkeit hinsichtlich des Besitzes atomarer Waffen fortführen, solange es keinem Gegner - ob Staat oder nicht-staatlicher Akteur - gelinge, Nuklearwaffen zu erwerben. Die Unterstützung des US-Krieges gegen den Terrorismus sei obligatorisch. Zugleich müsse Israel im Rahmen seiner Möglichkeiten alles tun, um Schurkenstaaten des Mittleren Ostens oder Terrorgruppen am Erwerb von Massenvernichtungswaffen zu hindern. Israel könne nicht überleben, falls es nicht zugleich eine glaubwürdige nukleare Abschreckung und ein mehrschichtiges Raketenabwehrsystem unterhalte. Dazu gehöre eine nukleare Zweitschlagsfähigkeit, mit der etwa 15 hochwertige Ziele, Bevölkerungszentren, in Ländern wie Libyen oder Iran bedroht werden könnten. Vorrangiges Ziel sei es, diese Waffen nie einsetzen zu müssen "Abschreckung ex ante, nicht Vergeltung ex post", im Nachhinein.

Massenvernichtungswaffen, das sind vor allem biologische und nukleare Waffen, sowie Trägersysteme größerer Reichweite. Sollte je ein Staat oder eine Koalition Massenvernichtungswaffen besitzen, so werde die Gefahr, dass ein konventioneller Krieg unter dem Schutzschirm dieser Waffen gegen Israel riskiert werde, deutlich steigen. Die Autoren diskutieren ein weiteres Risiko: Einen Staat, der wie ein Selbstmordattentäter agiert: "In der Art eines einzelnen Selbstmordattentäters, der ohne Angst vor den persönlichen Konsequenzen handelt", ja sogar die extremste persönliche Konsequenz, den eigenen Tod begrüßt "könnte ein arabischer Staat und/oder Iran Angriffe mit Massenvernichtungswaffen gegen Israel in voller Kenntnis und Erwartung der überwältigenden Reaktion Israels durchführen".

Ein solch irrationales Verhalten sei zwar derzeit noch unwahrscheinlich, aber in Zukunft werde es wahrscheinlicher. Derzeit finde ein strategischer Paradigmenwechsel statt: Lange als sekundär betrachtete Risiken wie jene, die von Langstreckenwaffen oder Terroristen in der unmittelbaren Nachbarschaft ausgehen, gewinnen an Bedeutung. Die Autoren gehen davon aus, dass sich Israel und die USA bereits in einem Krieg der Kulturen mit der islamischen Welt befinden, von Krieg, Terrorismus und Genozid akut bedroht sind. Dieser Dschihad sei seiner Natur nach kulturell und theologisch. Deshalb sei nicht damit zu rechnen, dass der Gegner sich auch nur einen Zentimeter auf konventionelle Normen wie Koexistenz und friedliche Streitbeilegung einlasse. In einem Nachwort - verfasst nach dem Einmarsch in Irak und der Ankündigung Libyens, auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten - wird festgehalten, dass nunmehr den Nuklearprogrammen in Pakistan und Iran gefolgt von Ägypten, Syrien und Sudan, sowie den Auswirkungen entstehender Verbindungen zwischen palästinensischen Terrorgruppen und Al Qaeda die größte Aufmerksamkeit zu gelten habe.

Israel lebt seit seiner Gründung in der Angst, seine staatliche Existenz sei akut gefährdet. Fünf Millionen Israelis leben unter 155 Millionen Arabern und über einer Milliarde Moslems. "Projekt Daniel" ist ein privates Unterfangen, aber nicht irgendeines. Die Mitglieder konnten sich sicher sein, dass ihre Ergebnisse Beachtung auf höchster Ebene finden würden. Prof. Luis René Beres, zur Zeit an der Purdue University in den USA, arbeitete mit einem Team hochrangiger Experten aus Israel und den USA zusammen, zu denen sowohl ehemalige Militärs als auch Geheimdienstler und Nuklearexperten gehörten.

Doch so verständlich die Furcht israelischer Sicherheitsexperten vor möglichen Massenvernichtungswaffen in der Hand arabischer oder moslemischer Besitzer auch sein mag, so deutlich wird auch ihre Funktion, Israels Machtpolitik und ein potentielles Agieren außerhalb völkerrechtlicher Normen zu rechtfertigen. Die Empfehlung, militärisch präemptiv oder gar präventiv gegen das Entstehen solcher Potentiale vorzugehen, ist dafür ein Beispiel.

Geschäftsgrundlage gefährdet

Faktisch aber läuft diese Logik darauf hinaus, allen arabischen bzw. islamischen Staaten das Recht auf die friedliche Nutzung der Atomenergie - der man positiv oder negativ gegenüberstehen mag - abzusprechen. In dieser Logik gibt es kein arabisches oder islamisches Land, dessen nukleare Programme in Israel nicht in den Verdacht des Strebens nach der Bombe wecken müssen. Dies aber impliziert die Gefahr, dass Israel als Nichtmitglied des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (Atomwaffensperrvertrages) die Geschäftsgrundlage des wichtigsten internationalen Nichtverbreitungsinstrumentes Schritt für Schritt und einseitig verändert.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS