Das Risiko vorbeugender Militärschläge wächst
Strategen empfehlen Israel massive Abschreckung / Atomtechnik in der Hand von Moslems
unter Generalverdacht
von Otfried Nassauer
Die Töne werden schärfer. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht neue Meldungen und
Gerüchte über das iranische Atomprogramm aufkommen. Die meisten fußen auf israelischen
Quellen oder gehen auf einen kleinen Kreis Neokonservativer in den USA zurück. Es vergeht
aber auch kaum ein Monat ohne neue militärische Drohungen. Israel bekundet seine
Bereitschaft, die iranischen Atomanlagen präventiv zu zerstören. Iran droht, die
israelische Atomanlage in Dimona anzugreifen und stellt neue Raketen in Dienst. Seit Irak
als potentielle Bedrohung Israels ausgedient hat, wird Teheran an seine Stelle gerückt.
Das ist - unabhängig von den realen Absichten Irans - wohl kaum Zufall.
Was den USA recht ist...
Bereits Anfang 2003 erhielt Ariel Scharon, Israels Ministerpräsident, einen brisanten
Bericht. Das "Projekt Daniel" überreichte Empfehlungen zu "Israels
strategischer Zukunft". Die hatten es in sich.
Israel, so empfahl das Dokument, müsse alles tun, damit sich keine "feindliche
Allianz" bilde und in den Besitz von Massenvernichtungswaffen komme. "Dies
könnte zweckdienliche präemptive konventionelle Schläge beinhalten, die sich gegen
feindliche Zentren der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Kontrolle und Stationierung von
Massenvernichtungswaffen" richten. Als "antizipierende Selbstverteidigung"
sei dies mit dem internationalen Recht genauso vereinbar wie mit der neuen Nationalen
Sicherheitsstrategie der USA. Was für die Weltmacht USA Recht sei, müsse für das
kleine, existenzbedrohte Israel billig sein.
Israel solle seine Politik der Zweideutigkeit hinsichtlich des Besitzes atomarer Waffen
fortführen, solange es keinem Gegner - ob Staat oder nicht-staatlicher Akteur - gelinge,
Nuklearwaffen zu erwerben. Die Unterstützung des US-Krieges gegen den Terrorismus sei
obligatorisch. Zugleich müsse Israel im Rahmen seiner Möglichkeiten alles tun, um
Schurkenstaaten des Mittleren Ostens oder Terrorgruppen am Erwerb von
Massenvernichtungswaffen zu hindern. Israel könne nicht überleben, falls es nicht
zugleich eine glaubwürdige nukleare Abschreckung und ein mehrschichtiges
Raketenabwehrsystem unterhalte. Dazu gehöre eine nukleare Zweitschlagsfähigkeit, mit der
etwa 15 hochwertige Ziele, Bevölkerungszentren, in Ländern wie Libyen oder Iran bedroht
werden könnten. Vorrangiges Ziel sei es, diese Waffen nie einsetzen zu müssen
"Abschreckung ex ante, nicht Vergeltung ex post", im Nachhinein.
Massenvernichtungswaffen, das sind vor allem biologische und nukleare Waffen, sowie
Trägersysteme größerer Reichweite. Sollte je ein Staat oder eine Koalition
Massenvernichtungswaffen besitzen, so werde die Gefahr, dass ein konventioneller Krieg
unter dem Schutzschirm dieser Waffen gegen Israel riskiert werde, deutlich steigen. Die
Autoren diskutieren ein weiteres Risiko: Einen Staat, der wie ein Selbstmordattentäter
agiert: "In der Art eines einzelnen Selbstmordattentäters, der ohne Angst vor den
persönlichen Konsequenzen handelt", ja sogar die extremste persönliche Konsequenz,
den eigenen Tod begrüßt "könnte ein arabischer Staat und/oder Iran Angriffe mit
Massenvernichtungswaffen gegen Israel in voller Kenntnis und Erwartung der
überwältigenden Reaktion Israels durchführen".
Ein solch irrationales Verhalten sei zwar derzeit noch unwahrscheinlich, aber in Zukunft
werde es wahrscheinlicher. Derzeit finde ein strategischer Paradigmenwechsel statt: Lange
als sekundär betrachtete Risiken wie jene, die von Langstreckenwaffen oder Terroristen in
der unmittelbaren Nachbarschaft ausgehen, gewinnen an Bedeutung. Die Autoren gehen davon
aus, dass sich Israel und die USA bereits in einem Krieg der Kulturen mit der islamischen
Welt befinden, von Krieg, Terrorismus und Genozid akut bedroht sind. Dieser Dschihad sei
seiner Natur nach kulturell und theologisch. Deshalb sei nicht damit zu rechnen, dass der
Gegner sich auch nur einen Zentimeter auf konventionelle Normen wie Koexistenz und
friedliche Streitbeilegung einlasse. In einem Nachwort - verfasst nach dem Einmarsch in
Irak und der Ankündigung Libyens, auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten - wird
festgehalten, dass nunmehr den Nuklearprogrammen in Pakistan und Iran gefolgt von
Ägypten, Syrien und Sudan, sowie den Auswirkungen entstehender Verbindungen zwischen
palästinensischen Terrorgruppen und Al Qaeda die größte Aufmerksamkeit zu gelten habe.
Israel lebt seit seiner Gründung in der Angst, seine staatliche Existenz sei akut
gefährdet. Fünf Millionen Israelis leben unter 155 Millionen Arabern und über einer
Milliarde Moslems. "Projekt Daniel" ist ein privates Unterfangen, aber nicht
irgendeines. Die Mitglieder konnten sich sicher sein, dass ihre Ergebnisse Beachtung auf
höchster Ebene finden würden. Prof. Luis René Beres, zur Zeit an der Purdue University
in den USA, arbeitete mit einem Team hochrangiger Experten aus Israel und den USA
zusammen, zu denen sowohl ehemalige Militärs als auch Geheimdienstler und Nuklearexperten
gehörten.
Doch so verständlich die Furcht israelischer Sicherheitsexperten vor möglichen
Massenvernichtungswaffen in der Hand arabischer oder moslemischer Besitzer auch sein mag,
so deutlich wird auch ihre Funktion, Israels Machtpolitik und ein potentielles Agieren
außerhalb völkerrechtlicher Normen zu rechtfertigen. Die Empfehlung, militärisch
präemptiv oder gar präventiv gegen das Entstehen solcher Potentiale vorzugehen, ist
dafür ein Beispiel.
Geschäftsgrundlage gefährdet
Faktisch aber läuft diese Logik darauf hinaus, allen arabischen bzw. islamischen Staaten
das Recht auf die friedliche Nutzung der Atomenergie - der man positiv oder negativ
gegenüberstehen mag - abzusprechen. In dieser Logik gibt es kein arabisches oder
islamisches Land, dessen nukleare Programme in Israel nicht in den Verdacht des Strebens
nach der Bombe wecken müssen. Dies aber impliziert die Gefahr, dass Israel als
Nichtmitglied des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (Atomwaffensperrvertrages) die
Geschäftsgrundlage des wichtigsten internationalen Nichtverbreitungsinstrumentes Schritt
für Schritt und einseitig verändert.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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