Frankfurter Rundschau
20. November 2002

 

Die Nato muss ihren Wertekodex verletzen
Der Prager Gipfel könnte das Militärbündnis radikal verändern
Otfried Nassauer und Angelika Beer über neue strategische Konzepte und Kommandostrukturen

  Otfried Nassauer

Große Ereignisse werfen lange Schatten voraus. So auch der Nato-Gipfel am 21. und 22. November in Prag. Schon die Ortswahl ist Symbol. Das Treffen in einem neuen Nato-Staat soll weitere Staaten zum Beitritt einladen. Doch ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA wird nicht die Erweiterung der Nato, sondern deren Umgestaltung und Neuausrichtung im Zentrum der Beratungen stehen. Der Gipfel könnte das transatlantische Bündnis so tief greifend verändern wie kaum ein anderer zuvor. Wir dokumentieren dazu eine Analyse der politischen Risiken. Autoren sind Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS) und Angelika Beer (Bündnis 90/Die Grünen), bis vor kurzem verteidigungspolitische Sprecherin ihrer Partei. Sie arbeitet als externe Expertin bei BITS mit.

Die Nato steckt in einer substanziellen Krise. Pierre Lelouche, ein profilierter französischer Sicherheitspolitiker, meint, in einer der tiefgreifendsten seit ihrer Gründung. Lord Robertson, der Generalsekretär der Nato, wähnte die Nato schon vor Monaten vor der Wahl zwischen "Modernisierung" und "Marginalisierung". Robertson glaubt, der Grund der Krise sei vor allem in der wachsenden Ausrüstungs-, Bewaffnungs- und Technologielücke zwischen den USA und Europa zu suchen. Er befürchtet, dass die Streitkräfte der Bündnispartner schon bald kaum noch gemeinsam operieren können.

Das sehen manche Kommentatoren anders. Sie glauben, die Krise sei grundsätzlicher. Sie sehen eine Kontinentaldrift tektonischer Platten. Je nach Standpunkt und Herkunft der Beobachter hat diese ihren Ursprung entweder im mangelnden europäischen Willen zu harter militärischer Machtpolitik. Oder sie resultiert aus der amerikanischen Neigung zu einem machtpolitischen Handeln, dass sich primär militärischer Mittel bedient und auf Bündnispartner nur dann Rücksicht nimmt, wenn diese bereit sind, der amerikanischen Führung zu folgen.

Alle gemeinsam beobachten einen dritten Aspekt der Krise: Historisch ist die Nato ein regionales Bündnis kollektiver Verteidigung. Diesem fällt es schwer, in den Kategorien weltweiten militärischen Handelns zu denken und zu handeln. Das umso mehr, weil sie fürchten, dass eine weltweit nach amerikanischem Vorbild und unter amerikanischer Führung agierende Nato sie vor all jene Probleme stellt, vor denen die USA bereits heute stehen: Streitkräfteeinsätze ohne Mandat der Vereinten Nationen; präventive und präemptive militärische Schläge, die kaum von Angriffskriegshandlungen zu unterscheiden sind; oder gar die Mitverantwortung für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen in einem solchen Kontext. Mithin vor Situationen, in denen die Nato ihren eigenen Wertekodex verletzt - zu diesem gehört die Anerkennung der Gültigkeit des Rechts.


Neue globale Aufgaben

Obwohl die Nato nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 den Bündnisfall ausrief, forderte Washington nur marginale, kleine militärische Beiträge von Brüssel und vermied es, die Allianz in die Entscheidung über militärische Reaktionen einzubeziehen. Die Nato wird meist nur informiert oder konsultiert; an strategischen Entscheidungen wirkt sie nicht mit.

Mit aller Macht versucht Lord Robertson, diesem Relevanzverlust gegenzusteuern. Die Nato müsse die Bekämpfung des Terrorismus in das Zentrum ihrer Aktivitäten mit hineinnehmen. Der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen komme wachsende Bedeutung zu. Etliches sei dabei schon erreicht. So habe das Bündnis schon während der Außenministertagung im Mai 2002 endlich die "sterile Debatte" um "Out-of-Area-Einsätze" zu den Akten gelegt und sich dazu bekannt, Einsätze "nach Erfordernis und wo nötig durchzuführen". Mithin: weltweit. So interpretierte Robertson die Aussage des Kommuniqués, dass das Bündnis Streitkräfte benötige, die schnell verlegt werden können, "wo auch immer sie benötigt werden".

Während das deutsche Außenministerium noch im September eine solche Interpretation für unzulässig erklärte, hat sie sich mittlerweile durchgesetzt. Es gilt als Konsens, dass die Nato weltweit agieren kann. Sie wird es unter Beweis stellen: Das Deutsch-Niederländische Korps wird in Kürze die Führung der ISAF-Mission in Afghanistan übernehmen - der globale Präzedenzfall für die Allianz. Die Nato könne jetzt eine "führende Rolle" bei der Bekämpfung des Terrorismus übernehmen, so Robertson, und ihre militärischen Fähigkeiten anderen internationalen Organisationen und Koalitionen von Fall zu Fall zur Verfügung stellen. Ein vom Militärausschuss erarbeitetes "Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus" soll verabschiedet werden. Ein neues strategisches Konzept ist dagegen zurzeit noch nicht geplant.

Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Die USA haben in den vergangenen Monaten ihre nationale Strategie deutlich verändert - zuletzt durch ihre neue Nationale Sicherheitsstrategie. Sie schließen es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht mehr aus, selbst anzugreifen, bevor sie angegriffen werden können. Dafür stehen die Begriffe "präemptive Schläge" und "defensive Intervention" im Sinne vorbeugender Selbstverteidigung.

Der amerikanische Begriff "präemptive Schläge" umfasst zweierlei. Zum einen fällt ein präventives Vorgehen darunter, so zum Beispiel die Zerstörung gegnerischer Raketenabschussrampen, unmittelbar bevor mit diesen ein Angriff gestartet werden soll. Zweitens sind vorbeugende, präemptive Angriffe gemeint, Angriffe, mit denen das Entstehen längerfristiger Bedrohungen verhindert werden soll, also zum Beispiel der Bau von Massenvernichtungswaffen. Israels umstrittener Angriff auf den irakischen Atomreaktor Osirak in den achtziger Jahren wäre ein Beispiel. Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird seitens der Bush-Administration bei solchen Einsätzen, die sich gegen staatliche wie nichtstaatliche Akteure richten können, nicht mehr ausgeschlossen.
Damit gerät die Nato in ein Dilemma. Passt sie ihre Strategie - wie so oft in der Vergangenheit - mit zeitlicher Verzögerung den Entwicklungen in der amerikanischen an, so bekäme sie Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität ihrer Planungen. Weder präemptive Angriffe noch gar der Einsatz nuklearer Waffen, möglicherweise gar unter Rückgriff auf die nukleare Teilhabe, wären völkerrechtlich gedeckt. Die Nato liefe Gefahr, aktiv das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu schwächen und an der Deregulierung der internationalen Beziehungen mitzuwirken.

Doch auch die Alternative kann dem Bündnis kaum schmecken: Wie soll die Nato ihrem stärksten Mitglied klar machen, dass in der Allianz andere Regeln gelten als in dessen nationaler Strategie? Ein kaum lösbares Dilemma, dem man nur mit Formelkompromissen oder selbst auferlegten Denkverboten vorläufig entkommen kann, wie sich infolge des wegen politischer Kontroversen abgebrochenen Krisenmanagement-Manövers CMX02 erst im Frühjahr wieder zeigte. Eine Antwort wird sich kaum in den öffentlichen Gipfeldokumenten finden. Dort werden sich solch heikle Fragen oder die erzielten Formelkompromisse kaum spiegeln. Eher schon in vertraulichen Papieren wie denen des Militärausschusses. Mithin: Das geplante "Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus" verdient höchstes politisches Augenmerk.

Das zeigte kürzlich auch eine Äußerung von Klaus Naumann, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Militärausschusses der Nato: Er geht davon aus, dass auch "die Nato in Prag die ersten Schritte in Richtung auf ein neues strategisches Konzept unternehmen wird, das Prävention und Präemption als Optionen, nicht aber als leitendes Prinzip" enthalten sollte. Die Nato müsse in Prag über neue Wege entscheiden, gegen chemische, biologische oder nukleare "Angriffe auf unsere Streitkräfte und unsere Bevölkerungen" zu reagieren. Dies sei mehr als Heimatverteidigung. "Das bedeutet, dass die Bedrohung da angegangen werden muss, wo sie entsteht, dass die Nato darauf vorbereitet sein muss, zu intervenieren, wo dies notwendig ist", ohne ihre Grundausrichtung als Verteidigungsbündnis aufzugeben.


Neue militärische Mittel

Mit den militärischen Einsatzmitteln des Kalten Krieges lassen sich solche Aufgaben kaum bewältigen. Mit diversen Vorschlägen soll deshalb schnell Abhilfe geschaffen werden.

Im September präsentierte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Idee, die Nato solle eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbauen, die Nato Response Force (NRF). Der Truppe, 21 000 Mann stark, sollten die besten Kräfte aller Nato-Staaten zugeordnet werden: Heeresverbände in Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte im Umfang einer der ständigen Einsatzflotten der Nato. Binnen fünf bis 30 Tagen solle sie weltweit einsetzbar sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen, solche, wie sie nötig sind, um Interventionen wie in Afghanistan durchzuführen. Bis zu 30 Tage soll sie autonom kämpfen können. Mit dieser Truppe könne die Nato sich dann an von den USA geführten Operationen beteiligen. Bis Oktober 2006 soll sie bereits einsetzbar sein.

Eine zweite Initiative heißt "Prager Fähigkeits-Verpflichtungen" (Prague Capabilities Commitment, PCC). Mit diesem Vorhaben sollen sich vor allem die europäischen Nato-Staaten politisch verbindlich verpflichten, zu festen Terminen bestimmte militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Gefahren oder im Bereich Führungssysteme bereitzustellen. Im Gegensatz zu der breiter angelegten Vorgängerinitiative, Defense Capabilities Initiative, sollen die PCC vor allem auf den Bedarf der NRF und damit auf globale Einsätze hoher militärischer Intensität ausgerichtet werden. In Arbeitsgruppen wird an der Steigerung der einzelnen Fähigkeiten gearbeitet.
Nicht jeder Nato-Staat muss zu allen Fähigkeiten beitragen. Arbeits- und Rollenteilung lauten die Zauberworte, von denen man sich den Fortschritt erhofft. Die Bundesrepublik leitet beispielsweise die Arbeitsgruppe strategischer Lufttransport. Unklar ist, ob sich hier vorrangig das Interesse der Bundeswehr spiegelt, doch noch die Bestellung von 73 (oder auch nur 60) Militärtransportern vom Typ A400M zu rechtfertigen. Klar dagegen ist, dass bereits erste, exorbitant teure Angebote zum Leasing amerikanischer Großraumtransporter vom Typ C-17 in Berlin vorliegen, mit dem die Zeit bis zum Zulauf der A400M ab 2009 überbrückt werden könnte. Möglich und erheblich billiger wäre es, etliche der Großraumtransportflugzeuge vom Typ Antonow 124 zu leasen, mit denen die Bundeswehr ihre Soldaten in Afghanistan versorgt.

Mit einer dritten Initiative soll der Gipfel die Fähigkeit der Nato zur Abwehr von Angriffen mit biologischen, chemischen, radiologischen und nuklearen Waffen auf Streitkräfte und Territorium der Mitglieder stärken. Das Vorhaben, dass zunächst als logische Konsequenz des Risikos terroristischer Angriffe erscheint und hinter dem man vor allem die Stärkung von ABC-Abwehrfähigkeiten und Zivilschutz vermutet, ist jedoch breiter angelegt. Hinter dieser Gipfelinitiative verbergen sich auch die Planungen der Nato zur Raketenabwehr für die Streitkräfte und das Territorium der Nato-Länder und vor allem eine weitere Facette der Diskussion über präventive und präemptive militärische Optionen des Bündnisses.

Der Prager Gipfel soll auch die Vorgaben für eine neue Kommandostruktur beschließen. Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden Nato-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Militärausschuss einen Vorschlag unterbreiten, wie die Nato mit deutlich weniger Kommandobehörden militärisch wesentlich flexibler agieren kann. Darum ist er kaum zu beneiden. Zum einen muss eine Reform der Kommandostrukturen die Ansprüche der künftigen Nato-Mitglieder berücksichtigen. Das wirkt gegen das Ziel der Straffung. Zum anderen hat eine Reform der nationalen Kommandostruktur der USA in Brüssel Probleme ausgelöst.

Die Nato soll demnach ihren wichtigsten Stab in den USA, SACLANT, aufgeben. Der ist dem Nato-Oberbefehlshaber SACEUR gleichgestellt, befehligt die Seestreitkräfte im Atlantik und im Krieg auch die assignierten strategischen Nuklear-U-Boote, den Kern der Nato-Nuklearabschreckung. Ein operatives strategisches Oberkommando sei genug, so argumentiert Washington. Doch SACLANT ist auch Symbol für die Aufgabe der Nato, zur Verteidigung der USA beizutragen.

Ein Signal, dass die Nato zur Verteidigung der USA nicht länger gebraucht wird? Washington hat angeboten, SACLANT in ein strategisch "funktionales" Transformationskommando umzuwandeln und dort künftige Nato-Einsatzkonzepte und Operationsformen zu planen. Dieses hätte keine operativen Aufgaben mehr. Das, so fürchtet mancher Europäer, sei ein Danaergeschenk.


Europas Bedenken

Obwohl die amerikanischen Initiativen im Grundsatz begrüßt werden, gibt es in Europa substanzielle Bedenken. Bundesaußenminister Joschka Fischer ließ sie am vorigen Donnerstag in seiner Regierungserklärung erkennen. Zur NRF formulierte er drei Bedenken: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der Truppe beim Nato-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche Einsatz-Beteiligung nur nach einem Beschluss des Bundestages möglich. Und drittens müsse das Vorhaben mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein. Unter diesen Voraussetzungen werde man der Ausarbeitung eines Konzeptes für die NRF zustimmen.

Dahinter stehen handfeste Befürchtungen. Fischer will verhindern, dass die Nato-Truppe auf Anforderung durch die USA oder andere Nato-Länder schnell und ohne die manchmal Zeit raubenden Beschlussfassungsmechanismen der Nato eingesetzt werden kann. Er will verhindern, dass der deutsche Parlamentsvorbehalt grundsätzlich ausgehebelt wird, erhöht aber damit indirekt den Druck, mittels eines Entsendegesetzes die Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung zu beschleunigen.

Und schließlich die Vereinbarkeit mit den europäischen Krisenreaktionskräften: Würde die NRF aufgestellt, so würden - wegen der Rotation - mindestens 60 000 der besten Soldaten dafür benötigt, Soldaten, die zumeist auch für die europäischen Krisenkräfte vorgesehen sind und den Kern der Einsatzfähigkeit der künftigen EU-Truppe berühren. Würde die NRF häufig bei der Nato angefordert, so stünden ihre Kräfte kaum für EU-Einsätze zur Verfügung. Und schließlich: Um die Zusammenarbeit mit den US-Truppen zu gewährleisten, müssten sie nach US-Vorbild modernisiert werden. Mit anderen Worten: Damit sie auch weiterhin im EU-Rahmen eingesetzt werden könnten, müssten auch alle anderen EU-Krisenkräfte verstärkt nach US-Vorbild modernisiert werden. Das strategische Nato-Oberkommando für Transformation würde in die gleiche Richtung wirken. Das gilt auch für die Prague Capabilities Commitments, die von Spöttern bereits als BAC, als "Buy American Commitments", bezeichnet werden.

Der Aufbau autonomer EU-Fähigkeiten würde sich also zumindest verteuern, wenn er nicht gar weitgehend durch die Nato absorbiert würde. All diese Zugeständnisse an die amerikanischen Wünsche würden aber zugleich keine Gewähr dafür bieten, dass die USA ihre europäischen Nato-Partner in der für diese entscheidenden Frage wieder ernster nehmen: Eine Garantie, dass Washington Europa strategische Mitsprache in der Frage, wie mit Krisen umgegangen werden soll, gewährt, ergibt sich nicht.


Die Osterweiterung

Osterweiterung - das ursprüngliche Hauptthema des Gipfels. Zehn Kandidaten stehen vor der Tür der Nato. Sieben werden die Einladung zum Beitritt bekommen: die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die Balkan-Staaten Slowenien, Bulgarien und Rumänien sowie die Slowakei. Außen vor bleiben vorläufig Kroatien, Albanien und Mazedonien. Der "big bang", die große Erweiterung, wird realisiert. Im Frühjahr 2004 sollen die Beitritte - etwa zeitgleich zur Erweiterung der EU - anlässlich eines erneuten Gipfels in Washington rechtswirksam vollzogen werden.

Erstaunlich ist, wie geräuschlos die zweite Erweiterung der Allianz vonstatten geht. Kein ausgedehnter Streit mit Russland, keine öffentliche Diskussion über die Frage, ob die baltischen Staaten im Ernstfall überhaupt verteidigt werden könnten, keine strategische Debatte, ob hier nicht zu vielen oder zu schwachen Kandidaten eine Beistandsgarantie gegeben werde.

Wesentliche Ursachen dafür liegen in Washington. Die Regierung Bush weist der Nato eine veränderte Rolle zu. Die Bedeutung der Nato liegt zunehmend im Politischen und immer weniger im Militärischen. Es wird unwahrscheinlicher, dass das Bündnisgebiet in einem klassischen Krieg verteidigt werden muss. Global kann die Allianz Washington begrenzt militärische Schützenhilfe leisten, ist aber kaum jener strategische Partner, dem die USA ein Mitspracherecht darüber einräumen würden, wie mit einer Krise umgegangen werden soll.
Schon deshalb muss das Konsensprinzip für Entscheidungen der Allianz jetzt nicht angetastet werden. Die Kooperation wichtiger Bündnispartner kann auch bilateral und mit geringeren Reibungsverlusten sichergestellt werden. Die Nato selbst soll deshalb zum einen die Integration der mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten in die westlichen Institutionen endgültig absichern und ein Wiederaufflammen der Kämpfe auf dem Balkan verhindern. Sie soll zweitens den Einfluss der USA auf die europäische Sicherheitspolitik sichern, und dies in einem deutlich größeren geographischen Raum. Vor allem Rumänien und Bulgarien haben dabei strategische Bedeutung, denn das Signal für den Balkan lautet: Die Stabilisierung Südosteuropas ist dauerhafte Gemeinschaftsaufgabe. Zugleich verbessern sich Möglichkeiten, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten. Die Aufnahme von sieben neuen Staaten auf einen Streich sichert Washingtons Einfluss in Europa, nicht zuletzt, weil deren neue Eliten oft in den USA ausgebildet wurden.
Und schließlich ist nach der großen zweiten Erweiterung klar, dass auf absehbare Zeit keine für das Verhältnis zu Russland politisch stark belastende Erweiterung des Bündnisses mehr ansteht. Dies enthebt der Notwendigkeit, in naher Zukunft erneut über eine kompensatorische Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland nachzudenken. Der 1997 eingerichtete, der Konsultation dienende Ständige Gemeinsame Rat wurde 2002 in einen Nato-Russland-Rat umgewandelt, in dem im Konsens aller 20 Staaten auch gemeinsam Beschlüsse - z.B. zur Terrorismusbekämpfung - gefasst werden können. Als nächster Schritt - so die teils ernst gemeinte, teils spaßige Begründung - bleibe ja eh nur, Russland die Vollmitgliedschaft zu offerieren. Doch damit lasse man sich besser viel Zeit.

Die Nato soll zwar auch weiterhin für neue Mitglieder offen bleiben. Konkrete Maßnahmen aber, die weitere Staaten an den Beitritt zur Nato heranführen sollen, verlieren an Dringlichkeit. Ausgebaut werden soll dagegen die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus. Viele Staaten, die für einen Nato-Beitritt auf absehbare Zeit nicht in Frage kommen, spielen - wie die zentralasiatischen Republiken - als Stationierungsländer für Nato-Streitkräfte bei Interventionen eine wichtige Rolle.


Tagesordnungspunkt Irak?

Gipfeltreffen unterliegen ihren eigenen Gesetzen. Das strittigste Thema steht häufig gar nicht auf der Tagesordnung. Es wird bei Lunch und Dinner besprochen, dann, wenn kein Protokoll geführt wird. Da kann Klartext geredet werden. Auch Prag wird wohl keine Ausnahme sein. Das heikle Thema "Irak" steht an. Die Wahlschlachten in Deutschland, der Türkei und den USA sind geschlagen. Jetzt kann große, notfalls auch unpopuläre Politik gemacht werden. Ungeachtet der Frage, ob ein Eingreifen in Irak mit dem Ziel der Ausschaltung der irakischen Massenvernichtungswaffen oder des Regimes von Saddam Husseins erfolgt: Spielt die Allianz bei einer Intervention eine Rolle, und wenn ja welche? Wird es ein Mandat der Vereinten Nationen geben oder nicht?

Für die Nato birgt das äußerst heikle Probleme: Kann sie als Wertegemeinschaft glaubwürdig bleiben, wenn sie sich selbst über gültiges Völkerrecht hinwegsetzt und einen Angriffskrieg unterstützt? Will die Allianz sich auf die seitens der USA vorgedachte Arbeitsteilung einlassen: Washington entscheidet, welcher Konflikt militärisch ausgetragen wird und wie - die Nato räumt hinterher auf? Beteiligt sich die Nato am Wiederaufbau Iraks?