Am 1. Oktober 2002 ist die Welt aufgeteilt - aufgeteilt
unter den militärischen Oberkommandos der Vereinigten Staaten. Zum ersten Mal in der
Geschichte gibt es kein Fleckchen Erde mehr, für das nicht eines der regionalen Kommandos
der USA zuständig ist - auch nicht in der Antarktis. Schon darin spiegelt sich das
veränderte Selbstverständnis Washingtons als einzige nach dem Kalten Krieg verbliebene
Supermacht. Es spiegelt sich aber auch eine veränderte Bedrohungs- und Risikowahrnehmung.
Gefahren für die Supermacht können überall lauern.
Am 1. Oktober 2002 entsteht ein neues Machtzentrum in der
amerikanischen Militärbürokratie - ein Oberkommando, dem Frühwarnsysteme und
Satelliten, Raketenabwehrsysteme und strategische Angriffsraketen, strategische Mittel
für konventionelle und nukleare Angriffsoperationen unterstellt werden. Washington plant
eine integrierte Kommandozentrale für - auch präventive - strategische Angriffe,
strategische Vergeltungsangriffe und strategische Verteidigung. Dieses Oberkommando soll
konventionelle und nukleare strategische Operationen planen und durchführen und wird
damit zum Symbol für ein neues, zweites, sehr anderes Zeitalter und Verständnis der
Abschreckung.
Das ist, kurz gefasst, das Ergebnis der jüngsten Überprüfung des
"Unified Command Plans", ein Dokument, das alle 2 bis 3 Jahre überarbeitet und
vom Präsidenten der USA gebilligt wird. Es beschreibt die Aufgaben, Zuständigkeiten und
Verantwortlichkeiten der wichtigsten militärischen Kommandobehörden der USA, der
regionalen Oberkommandos mit ihren geographischen Zuständigkeiten und der funktionalen
Oberkommandos für spezifische Fachaufgaben. In mehreren Schritten hat die Regierung Bush
seit April ihre von den Ereignissen des 11. Septembers deutlich geprägten Entscheidungen
öffentlich gemacht. Am 1. Oktober sollen sie in Kraft treten. Sie beinhalten gravierende
Veränderungen - gerade auch für Europa und die Nato.
Aufgeteilte Welt
Erstmals wird ein militärisches Oberkommando für die Verteidigung
Nordamerikas (NORTHCOM) eingerichtet. Geographisch zuständig ist es von Mexiko im Süden
bis nach Alaska im Norden. Hinzu kommen Seegebiete, die je 500 Meilen weit in den Pazifik
und den Atlantik hineinreichen. Dazu gehören auch Teile der Karibik einschließlich
Kubas. Deutlicher kann die elementare, neue Erfahrung des 11. Septembers ihren Ausdruck
militärisch nicht finden: Ein alter amerikanischer Traum, der von der Unverwundbarkeit
der USA, ist ausgeträumt. Vorsorge gegen die Verletzlichkeit der Industriegeselllschaft
gegen asymmetrische Risiken und Bedrohungen soll auf allen Ebenen getroffen werden. Dem
militärischen Schritt entsprechen im zivilen Bereich die Einrichtung eines "Büros
für Heimatsicherheit" (Office of Homeland Security) und eines
"Heimatsicherheitsrates" (Homeland Security Council) im Weißen Haus sowie die -
vorbehaltlich der Zustimmung des Kongresses - für den 1. Januar 2003 geplante Einrichtung
eines Ministeriums für Heimatsicherheit (Department of Homeland Security).
Erweitert wird die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa (EUCOM).
Bislang umfasste es Europa, Afrika außer Nordostafrika, Israel, Syrien und den Libanon
sowie die Staaten südlich des Kaukasus und Teile des Atlantiks. Hinzu kommen jetzt der
Großteil des restlichen Nordatlantik, große Teile des Südatlantiks und vor allem
Russland. Russland fällt damit zu ersten Mal in den Zuständigkeitsbereich eines
spezifischen regionalen Oberkommandos, eine Zuordnung, die deutlich widerspiegelt, dass
Washington Moskau nicht mehr als Supermacht betrachtet, aber auch nicht mehr primär als
Feindstaat sieht.
Größer wird auch der Zuständigkeitsbereich des Pazifischen
Oberkommandos (PACOM). Indien, Südostasien, China, die beiden koreanischen Staaten, Japan
und Australien gehörten schon lange dazu. Jetzt kommt die Antarktis hinzu. Diese blieb
bislang - auch als Folge des Antarktisvertrages - aus der Zuständigkeit aller regionalen
Oberkommandos ausgeklammert. PACOM soll EUCOM bei der Zusammenarbeit mit Russland im
fernöstlichen Militärbezirk unterstützen.
Unverändert bleiben das Southern Command (SOUTHCOM) mit Zuständigkeit
für Mittel- und Südamerika sowie das Central Command (CENTCOM) mit seiner Zuständigkeit
für Nordostafrika, den Persischen Golf, Zentralasien und Pakistan, also jene Regionen, in
denen die größten Ressourcen an fossilen Energieträgern lagern. Asien bleibt
unverändert auf zwei regionale Oberkommandos aufgeteilt. Hier sieht Washington in der
näheren Zukunft das größte Risiko des Entstehens neuer Krisen und Konflikte.
Nur kleinere Veränderungen wurden zunächst für die funktionalen
Oberkommandos verkündet. Das erst 1999 eingerichtete Joint Forces Command (JFC) gibt
seine bislang noch bestehende territoriale Zuständigkeit für den Atlantik, wie schon zu
Zeiten der Regierung Clinton vorgesehen, endgültig ab, ebenso die Zuständigkeit für die
Verteidigung Nordamerikas, mit der es zwischenzeitlich nach dem 11. September betraut
worden war. Es soll künftig als Spezialkommando für Zukunftskonzepte und
teilstreitkraftübergreifende Operationen dienen. Unverändert bleiben die
Zuständigkeiten des Oberkommandos der Spezialkräfte (SOCOM) und des Transportkommandos
(TRANSCOM).
Sorgenfalten in Brüssel
Post zu den neuen Kommandostrukturen erhielt kürzlich auch George
Robertson, der Nato-Generalsekretär. Der US-Präsident bat ihn darum, den
Oberbefehlshaber des Nato-Oberkommandos Atlantik, SACLANT, ab Oktober 2002 von seinen
Nato-Aufgaben zu entbinden, damit dieser sich ganz auf die Aufgaben als Befehlshaber des
Joint Forces Commands konzentrieren könne. Dessen Stellvertreter solle übergangsweise
die Tagesarbeit übernehmen, bis im Rahmen der laufenden Überarbeitung der
Nato-Kommandostrukturen eine dauerhafte Lösung für die Zukunft gefunden sei.
Hinter der Bitte Washingtons steckt mehr. ACLANT, das Atlantik-Kommando
der Nato, ist aus Sicht des Pentagons nicht länger erforderlich. ACLANT aber ist nicht
irgendein Kommando, sondern gleichberechtigt mit dem Nato-Oberkommando Europa eine der
beiden höchsten Kommandobehörden der Allianz. ACLANT ist der wichtigste militärische
Brückenkopf der Nato auf dem amerikanischen Kontinent. Es hat bedeutende
Zuständigkeiten. Es soll unter einheitlichem Befehl die Seewege über den Atlantik
sichern. Deshalb unterstehen ihm auch die Kräfte der US-Flotte im Atlantik. Und es
befehligt die auf U-Booten stationierten, strategischen Nuklearstreitkräfte der USA und
Großbritanniens, falls diese in einer Krise der Nato zugeordnet werden sollten.
Kleine Nato-Stützpunkte gefährdet
Mithin: Es hätte gravierende Folgen für die Nato, wenn deren
Oberkommando Atlantik letztlich aufgelöst oder auch nur in seiner Bedeutung deutlich
heruntergestuft werden sollte. Verabschiedet sich Washington aus der gemeinsamen Sicherung
der Seewege über den Atlantik? Oder schafft es sich nationale Parallelstrukturen und
-zuständigkeiten, die im Ernstfall auch ohne die Nato agieren können? In beiden Fällen
wäre ein erheblicher Einflussverlust für die Nato die Folge. Das einzige große
Nato-Hauptquartier auf dem Boden der USA ginge verloren. Die Existenz der kleineren
Nato-Hauptquartiere für den westlichen Atlantik wäre ebenfalls gefährdet. Die Zukunft
der strategische Nuklearkomponente der Nato wäre neu zu regeln, ebenso wie die
Zuständigkeit dafür.
Mancher in Brüssel fragt sich deshalb besorgt, ob Washington nur eine
bessere Heimatverteidigung oder eine verteidigungspolitische Autarkie anstrebt oder ob die
Regierung Bush gar letztlich noch weiter geht und auf eine partielle Abkopplung von Europa
zielt. Will die Regierung Bush Europas Einflussmöglichkeiten über die Nato auf die
Sicherheitspolitik der USA reduzieren oder gar ausschalten?
Auch die Nato hat mit der Arbeit an einer neuen Kommandostruktur
begonnen. Während des Prager Nato-Gipfels im November sollen erste Pflöcke eingeschlagen
werden, bis zum Juni 2003 soll sie vorliegen. Ein schier unmöglich erscheinendes
Unterfangen. Denn der Nato-Gipfel soll auch entscheiden, welche neuen Mitglieder das
Bündnis aufnehmen wird. Damit stehen deren Ansprüche, künftig Teile der
Nato-Kommando-Struktur zu beherbergen, gleich mit auf der Tagesordnung. Eine komplexe
Aufgabe und eine komplizierte dazu. Denn mitbedacht werden will auch, dass - so jedenfalls
die deklarierte Absicht - die neu zu entwickelnden Strukturen auch mit jenen kompatibel
sind, die die Europäische Union für die Implementierung ihrer europäischen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik benötigen wird. Noch komplizierter wird die Aufgabe jetzt durch
die nationalen Entscheidungen Washingtons zu seiner eigenen Kommandostruktur.
Da mag es kaum verwundern, dass mancher in Brüssel inbrünstig hofft,
in der Diskussion mit den 18 anderen Nato-Staaten werde Washington seine Meinung im Blick
auf das Oberkommando Atlantik doch noch einmal ändern - schließlich sei ja eine Lösung
im Konsens zu finden. Doch die Karten dafür aber sind schlecht verteilt. Denn erstens
müsste Washington eine bereits getroffene, nationale Entscheidung revidieren, zweitens
hat es der Nato die Diskussion mit seiner Entscheidung verordnet und drittens muss
Brüssel der US-Diskussion hinterhereilen.
Neues militärisches Machtzentrum
Ende Juni fällte Washington eine weitere wichtige Entscheidung. Zwei
der wichtigsten funktionalen Oberkommandos werden zusammengelegt. Das Weltraumkommando
(SPACECOM), mittlerweile auch zuständig für die Informationskriegsführung, und das
Oberkommando der Strategischen Streitkräfte, (STRATCOM) werden integriert. SPACECOM zieht
von der Luftwaffenbasis Peterson in Colorado zu STRATCOM nach Offut Air Force Base in
Nebraska um. Die Luftwaffenbasis Peterson beherbergt künftig das neue regionale
Oberkommando NORTHCOM, zuständig für die Verteidigung Nordamerikas.
Das neue strategische Oberkommando in Offut erhält weitreichende
Zuständigkeiten. Hier werden alle militärischen Elemente der neuen strategischen Triade,
des strategischen Instrumentariums der USA, unter einem Dach zusammengefasst: Die
Kontrolle über die Satellitensysteme der USA, die Frühwarnung und Verteidigung gegen
Raketenangriffe - also auch das Raketenabwehrprogramm der USA - und die Verantwortlichkeit
für konventionelle wie nukleare Angriffsoperationen großer Reichweite. Was zunächst als
Verschlankung und Rationalisierung von amerikanischen Befehlsstrukturen dargestellt wird,
ist zugleich etwas anderes: Die Zusammenführung zweier schon jetzt sehr mächtiger
Teilstrukturen der US-Streitkräfte unter einem Dach. Geschaffen wird so ein neues,
ausgesprochen starkes militärisches Machtzentrum, das die künftige Militärpolitik
Washingtons ebenso entscheidend mitprägen wird wie die Auseinandersetzung ums Geld.
Nukleare Angriffsoptionen
Mehr noch: Mit dem neuen strategischen Oberkommando wird einer der
entscheidenden und umstrittenen Grundgedanken der jüngsten Überprüfung der
Nuklearstrategie und -streitkräfte der USA, des Nuclear Posture Review, erstmals
umgesetzt. Defensive und offensive Elemente werden ebenso integriert wie konventionelle
und nukleare Angriffsoptionen. Als strategisch erachtete Bedrohungen der USA - wie z. B.
durch Staaten oder nichtstaatliche Akteure, die über Massenvernichtungswaffen verfügen -
sollen künftig von einem einzigen, mit allen erforderlichen Kompetenzen ausgestatteten
Oberkommando bearbeitet werden, dem eine möglichst breite, flexible Reaktionspalette zur
Verfügung steht. Es soll sowohl Abwehrmaßnahmen gegen einen drohenden Angriff
koordinieren und durchführen als auch Vergeltungsangriffe planen können.
Zudem soll es in der Lage sein, sogenannte präemptive Angriffe
durchzuführen, Angriffe, die verhindern sollen, dass die Vereinigten Staaten überhaupt
angegriffen werden können. Dabei ist es gleichgültig, ob der potenzielle Angreifer ein
Staat ist oder ob es sich um einen nichtstaatlichen Akteur wie z. B. eine internationale
Terroristengruppe, religiöse Extremisten oder einen zur Gewalt greifenden internationalen
Konzern handeln würde.
Vereinfacht: Washington will zuschlagen können, bevor es getroffen
wurde. Die Administration George W. Bush's hat für solche Angriffe jüngst den Begriff
der "defensiven Intervention" geprägt. Damit deutet sich an, dass die USA das
Selbstverteidigungsrecht des Völkerrechts künftig sehr weit auslegen und die
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Krieges weitgehend von der UN in New York
nach Washington verlegen werden. Im Frühherbst sollen diese Überlegungen in ein
öffentliches Regierungsdokument münden, in eine neue "Nationale
Sicherheitsstrategie".
Besondere Besorgnis ruft auch die Tatsache hervor, dass präemptive,
nukleare Angriffe explizit nicht ausgeschlossen werden. Das Argument: Viele potenzielle
Ziele, äußerst tief unter der Erde oder in Gebirgen gelegene Bunker zum Beispiel,
können mit konventionellen Waffen nicht gesichert zerstört werden. Nuklearwaffen,
wahrscheinlich auch speziell zu entwickelnde, neue Nuklearwaffen, seien gegen solche Ziele
das einzig probate Mittel. Atomare Angriffe gegen solche Ziele aber könnten - Terroristen
haben kein Staatsterritorium - auch gegen nicht-nukleare Staaten erfolgen. Wieder hätte
das internationale Recht das Nachsehen. Natürlich, so argumentiert die Regierung Bush,
seien Nuklearwaffen das letzte Mittel, dann, wenn kein anderes Erfolg verspreche. Gerade
deshalb sei es so wichtig, dass ein einziges Oberkommando zuständig werde und zwischen
beiden Möglichkeiten abwägen könne. Doch während die Regierung argumentiert, dies
verringere die Wahrscheinlichkeit, dass nukleare Waffen zum Einsatz kämen, sehen das
deren Kritiker genau umgekehrt: Der Unterschied zwischen konventionellen und nuklearen
Operationen werde verwischt. Nukleare Waffen würden zu "normalen" Instrumenten
der Kriegführung und damit steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie - weil wirksamer -
auch eingesetzt würden. Bis zu 2200 strategische Atomwaffen in den aktiven Streitkräften
und 2400 zügig reaktivierbare Reservesprengköpfe wollen die USA nach dem neuen
Rüstungskontrollabkommen mit Rußland auch langfristig behalten.
Die Bush-Revolution und Europa
Wieviel Europa brauchen die USA? Wie reagiert Europa auf die von den
USA angestoßene neue Debatte über die Zukunft der Nato? Wie reagiert Europa auf das neue
Konzept der Abschreckung, auf die Entscheidung Washingtons, Terrorismus und Proliferation
als Interventionsgründe zu betrachten und über eine Doktrin "der Grenzen der
Souveränität" - wie es Richard N. Haas, der Direktor der Planungsabteilung des
US-Außenministeriums, kürzlich nannte - nachzudenken?
Drei europäische Reaktionsweisen
Schon diese wenigen Fragen zeigen, dass hinter scheinbar
militärisch-technischen Entscheidungen zur Zukunft der militärischen Kommandostruktur
der USA unausweichliche, hochpolitische Fragen und Richtungsentscheidungen lauern.
Drei europäische Reaktionsweisen sind bislang charakteristisch. Die
europäische Politik reagiert defensiv und ohne erkennbare Alternativ-Konzepte. Sie agiert
nach dem Prinzip Hoffnung "Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wurde".
Und sie reagiert oft mit einer falschen Kritik: Sie wirft den USA Unilateralismus vor.
Doch Unilateralismus ist es nicht, was die gegenwärtige
US-Administration umtreibt. Die Regierung Bush hält es schlicht im nationalen Interesse
für unverzichtbar, bestehende Beschränkungen der amerikanischen vor allem militärischen
Handlungsfreiheit abzubauen, um künftig flexibler vorgehen zu können.
Rüstungskontrollverträge, die das Ausspielen eigener militärischer Stärken behindern,
werden aufgegeben oder gar nicht erst abgeschlossen. Völkerrechtliche Regeln, die wie die
UN-Charta kaum oder keinen Spielraum für militärische Interventionen gegen Terrorismus
und Proliferation lassen, müssen geändert oder durch die eigene Praxis außer Kraft
gesetzt werden. In Bündnissen und Allianzen, die anderen Mitspracherechte über die
Politik Washingtons garantieren, muss klargestellt werden, dass sie amerikanisches Handeln
nicht blockieren dürfen und mitmachen sollten, wenn sie nicht ins Abseits gestellt werden
wollen.
Als "Multilateralismus a la carte" hat Richard N. Haas diese
Herangehensweise bezeichnet. Man prüfe in jedem Einzelfall, ob historische multilaterale
Bindungen noch den eigenen Interessen entsprechen. Sicherheitspolitik ist in diesem
Verständnis eine militärische Gestaltungsaufgabe, mithin nicht primär an Stabilität,
sondern an Veränderung interessiert. Dazu müssen hinderliche Regeln einer alten
Weltordnung abgerissen und vielleicht künftig durch neue, auf Vorgaben aus Washington
fußende Regeln ersetzt werden. Bis dahin dient - und dies wäre der Kern einer
gerechtfertigten Kritik - die von der Bush-Administration praktizierte Deregulierung der
internationalen Beziehungen vor allem einem - dem Stärkeren.
Auf diese Entwicklungen reagiert Europa erstaunlich defensiv, ohne
erkennbare Alternativkonzepte und offensichtlich vorrangig in der Hoffnung, doch noch
bremsen zu können. Es verwundert, dass aus Europa keine Vorschläge für eine
effizientere Nichtverbreitungspolitik kommen. Es ist kaum verständlich, dass die
europäischen Staaten im Blick auf die vorrangig nicht-militärisch zu führende
Bekämpfung des Terrorismus mit ihren eigenen Beiträgen so defensiv umgehen. Und vor
allem irritiert, dass die europäischen Nato-Staaten aus der Tatsache, dass der
Sicherheitspolitik ein erweiterter Begriff der Sicherheit zu Grunde zu legen ist, nicht
schlussfolgern, dass die Beiträge zur transatlantischen Lastenteilung künftig ebenfalls
nach erweiterten Kriterien bemessen werden müssen.
Anzeichen der Lähmung
Nicht allein Fähigkeiten zu militärischer Kriegführung und Ausgaben
für militärische Zwecke, sondern alle Aufwendungen für eine Sicherheitspolitik, die
sich als Gestaltung von künftiger Weltordnung versteht, müssten dabei herangezogen
werden. Europa hätte auch allen Grund, mit konstruktiven Konzepten und Vorschlägen
aufzuwarten, die der Stärkung internationaler Organisationen, des Multilateralismus und
der Multipolarität dienen. Nur - diese bleiben aus. Mithin - das politische Washington
neigt immer mehr zu der Schlussfolgerung, dass Europa weder politisch noch militärisch
ein ernsthafter Partner bei der Gestaltung von Weltordnung sein will, dass Europa sich der
Übernahme globaler Verantwortung entzieht. Die Passivität der europäischen Staaten muss
umso mehr erstaunen, da die Politik der Regierung Bush dem Prinzip der europäischen
Integration - der zunehmenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen - zuwiderläuft
und die Grundinteressen europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, Multilateralismus
und Multipolarität, immer deutlicher negiert.