Frankfurter Rundschau
17. März 2007


Ein US-General mit dem Musterkoffer

von Otfried Nassauer

Die USA haben in den letzten Monaten die Pläne für ihr Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien überarbeitet. Die neue Architektur hat neue politische Argumente zur Folge. Das machte der Berlin-Besuch des Chefs der US-amerikanischen Raketenabwehr, General Henry Obering, in dieser Woche deutlich.

Ab 2011 sollen 10 Abfangraketen im Nordosten Polens stationiert werden. Diese haben nur zwei und nicht drei Antriebsstufen wie die Raketen, die bereits in Alaska und Kalifornien aufgestellt wurden. Wie ihre großen Brüder in den USA sollen sie anfliegende Raketen während der mittleren Flugphase, also außerhalb der Erdatmosphäre, durch einen Frontalzusammenstoß zerstören. Sie tragen keinen Sprengkopf, sondern einen etwa 70 Kilo schweren, manövrierbaren Kollisionskörper, das sogenannte Hit-to-Kill-Vehikel in den Weltraum, das dort auf Kollisionskurs mit den anfliegenden Raketensprengköpfen gebracht wird.

Die scheinbar kleine Veränderung - die Abfangrakete soll eine Antriebsstufe weniger haben - hat große Folgen. Technische und für die politische Argumentation. Eine zweistufige Abfangrakete ist leichter, kann schneller starten, steigen und ist agiler. Sie benötigt für die Antriebsphase, also bis zum Brennschluss der Raketentriebwerke, nur etwa zwei statt drei Minuten. Deshalb kann sie anfliegende Raketen schon deutlich früher und auch noch später abfangen als die schwerfälligere dreistufige Version. Allerdings wird durch die geringere Reichweite das Gebiet verkleinert, in dem ein Abfangen möglich ist. Wurde der große Bruder mit dem Ziel entwickelt, künftige nordkoreanische oder iranische Langstreckenraketen auf dem Flug in die USA abzufangen, so soll der kleine jetzt auch Mittelstreckenraketen mit Reichweiten ab 2000 oder 2500 Kilometern bekämpfen können.

Das macht es für General Obering deutlich leichter, bei skeptischen Europäern für das Raketenabwehrsystem zu werben. Amerika plant nicht länger eine Raketenabwehr in Europa, die vor allem die USA schützt und Russland vergrätzt. Vorgesehen ist jetzt ein System, das verspricht, auch den größten Teil der europäischen Nato-Staaten gegen Raketen aus dem Iran abzudecken. Zudem gibt es aus US-amerikanerischer Sicht jetzt einen guten Grund mehr, ein solches System früher in Europa zu stationieren. Ob der Iran bis 2015 eine atomare Interkontinentalrakete entwickeln kann, wie es die US-Geheimdienste vorhersagen, mag bezweifelt werden. Aber, dass der Iran bis 2015 die Reichweite seiner Mittelstreckenraketen auf 2000 bis 3000 Kilometer steigert und damit Teile Europas ins Visier nehmen kann, das ist schon wahrscheinlicher.

Mit dieser Frage beschäftigt sich auch die Nato. Nach dem Prager Nato-Gipfel wurden Studien in Auftrag gegeben, in denen unter anderem untersucht wurde, wie sich die Bedrohung durch Raketen aus Ländern wie dem Iran, Syrien, Libyen oder Pakistan entwickeln könnte. Besonderes Augenmerk galt dabei möglichen Mittelstreckenraketen mit Reichweiten bis zu 3000 Kilometern. Untersucht wurde, wie Nato-Truppen im Ausland und Bevölkerungszentren in den europäischen Nato-Staaten geschützt werden könnten. Als Ergebnis wurde ein mehr als 10 000 Seiten dicker Geheimbericht vorgelegt. Bei dessen Bewertung zeigte sich, dass die Nato-Staaten die Bedrohung durch solche Raketen unterschiedlich einschätzen. Sie streiten vor allem darüber, wann und wie viel Geld investiert werden sollte, um Abwehrmaßnahmen zu ergreifen.

Der Nato-Gipfel in Riga konnte sich im November 2006 nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen: Die Allianz gab erste Entwicklungsarbeiten für ein Führungssystem in Auftrag, mit dem die nationalen Raketenabwehrpotentiale für Kurz- und Mittelstreckenraketen integriert werden können. Dabei handelt es sich um Abwehrsysteme - Patriot PAC-3 oder MEADS zum Beispiel - die gegen Raketen mit Reichweiten bis zu 1000 Kilometern eingesetzt werden können. Vor allem im Ausland stationierte Truppen oder Länder an der Nato-Südflanke könnten so geschützt werden.

Über weitergehende und teurere Optionen gab es dagegen keine Einigung. Dazu gehörten auch Vorschläge, ähnlich wie die USA ein Raketenabwehrsystem mit einer oder mehreren Basen für Abfangraketen und den dazugehörigen Flugbahnverfolgungsradaren aufzubauen. Je nach Umfang des Systems wären dafür acht oder 20 Milliarden Euro erforderlich, schätzte die Industrie. Auf solche Großprojekte werden sich die Nato-Staaten auch künftig nicht so schnell einigen. Das wissen auch die USA. Aber hier öffnet sich eine Möglichkeit, den politischen Widerstand gegen ein amerikanisches Raketenabewehrsystem in Europa zu schwächen. General Obering nutzte sie: Er argumentierte, Washington werde sein Raketenabwehrsystem schon deshalb bauen, weil es die USA schütze und deshalb im Interesse Washingtons liege. Als nationales System der USA werde es natürlich auch unter nationalem Kommando stehen. Ein Mitspracherecht für die Stationierungsländer oder die Nato sei nicht vorgesehen. Washington sei aber offen dafür, sein auch Europa schützende System später als nationalen Beitrag in erweiterte Raketenabewehrfähigkeiten der Nato einzubringen.

Damit stehen viele Türen offen. Während die Europäer diskutieren, ob man die USA über die Nato einbinden und den politischen Schaden gegenüber Moskau begrenzen kann, plant Washington den Bau eines Musterhauses. Die Europäer können es sich anschauen, bis sie den Wunsch entwickeln, es zu kaufen.

Doch eine Schwäche hat das Werben um Europas Zustimmung zur Raketenabwehr: Noch gibt es die neuen zweistufigen Abfangraketen gar nicht. Niemand weiß, ob sie halten werden, was versprochen wird. Niemand kann sagen, ob sie besser funktionieren würden, als die US-Raketen in Alaska. Doch als kleiner Trost: Noch gibt es ja auch die Angriffsraketen, die künftig abgefangen werden sollen nicht.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS