Das Orakel von München
von Otfried Nassauer
Es ist wie ein Ritual: Seit über 40 Jahren pilgert die sicherheitspolitische Elite des
Westens Anfang Februar nach München. Treffpunkt ist der Bayerische Hof, ein
altehrwürdiges Nobelhotel. Anlass ist die Wehrkundekonferenz. Heute heißt sie
Sicherheitskonferenz. München ist für Sicherheitspolitiker das, was für die
ökonomische Elite das Weltwirtschaftsforum in Davos ist. Hier wird die Agenda für das
kommende Jahr diskutiert. Beschlüsse werden zwar nicht
gefasst, wohl aber Weichen gestellt.
Der Teilnehmerkreis ist illuster. Horst Teltschik, Kanzleramtsminister unter Helmut
Kohl, erwartet also Organisator 250 bis 270 Gäste, darunter Kanzlerin Merkel, den
russischen Präsidenten Putin, den neuen US-Verteidigungsminister Bob Gates, Javier Solana
für die Europäische Union und den NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer.
Natürlich werden auch Verteidigungsminister Jung und Außenminister Steinmeier nicht
fehlen.
Die Tagesordnung ist allgemein gehalten. Es geht um die EU als regionales Modell für
einen Friedens-, Sicherheits- und Wohlstandsraum, die globale Verantwortung der NATO, den
Friedensprozess im Nahen und Mittleren Osten und um asymmetrische Bedrohungsszenarien wie
den internationalen Terrorismus. Präzise Fragestellungen stören, wenn hohe
Entscheitungsträger kommen und das Wort ergreifen. Sie haben oft ihre eigene Agenda. Vage
Themen lassen dafür Platz.
Auffällig ist, dass wichtige strittige Themen wie der Balkan, Afghanistan oder der
Irak fehlen. Mangelnde Aktualität ist nicht der Grund. Für den Balkan hat der finnische
Vermittler Marti Ahtisari soeben seinen Plan zum künftigen Status des Kosovo vorgelegt.
Für den Irak präsentierte US-Präsident Bush im Januar eine neue Strategie, mit der ein
Scheitern verhindert werden soll. In Afghanistan sieht sich die NATO 2007 vor dem
entscheidenden Kampf gegen Taliban und Al Kaida. Alle diese Themen begleiten westliche
Sicherheitspolitik seit Jahren. Sie zeigen, mit welch großen Schwierigkeiten westliche
Versuche verbunden sind, Staaten nach Interventionen wieder aufzubauen. Auf all diesen
Baustellen gibt es noch viel Arbeit. Doch wie diese geleistet werden soll, ist kontrovers.
Im Irak, so George W. Bush, müssen die USA unbedingt Erfolg haben. Bush will deshalb
mit mehr Soldaten und erheblich mehr Geld Aufständische bekämpfen und verhindern, dass
der Irak im Bürgerkrieg versinkt. Die Hauptarbeit sollen irakischen Sicherheitskräfte
erledigen, für deren Verstärkung, Ausbildung und Bewaffnung zusätzliche Milliarden
bereitgestellt werden. Sie sollen unterstützt von US-Truppen Sicherheit
herstellen und Milizen entwaffnen. US-Einheiten sollen sich darum kümmern, den Waffen-
und Personalnachschub aus Syrien und dem Iran zu unterbinden. Der Einfluss Irans soll
zurückgedrängt werden. Dazu sollen die US-Truppen von geltenden Einsatzrestriktionen
befreit werden. Sie sollen ohne Plazet der irakischen Regierung agieren und dürfen jetzt
gezielt gegen Iraner im Irak vorgehen, diese festsetzen oder gar töten. Weitere 235 Mrd.
Dollar soll der Kongress für 2007 und 2008 zusätzlich bereitstellen, 45 Mrd für 2009.
Doch neu ist die Strategie Bushs nicht. Mit größeren militärischen Ressourcen soll
in Zukunft erreicht werden, was bislang mit großen nicht gelang. Unklar ist, ob der
demokratisch kontrollierte US-Kongress soviel Gelder bereitstellt. Neu allerdings ist,
dass George W. Bush im Irak eine weitere Front im Streit mit dem Iran eröffnet. Dass Bush
den Iran noch vor dem Ende seiner Amtszeit angreifen könnte, fürchten viele. John
Rockefeller, der besonnene Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des US-Senats, merkte
kürzlich an: "Ich habe die Sorge, dass sich hier gerade der Irak wiederholt."
In Europa überwiegen die Zweifel an der neuen Irak-Strategie. Ein Angriff auf den Iran
würde jedoch als noch katastrophalere Fehlentwicklung gesehen. Anlass für eine Debatte
in München wäre es allemal.
In Afghanistan ist es die NATO, die 2007 zum Erfolg verdammt ist. So jedenfalls sieht
es die Allianz selbst. Bei einem Scheitern stehe es schlecht um die Zukunft des
erfolgreichsten Militärbündnisses der Geschichte. Der Frühjahrsoffensive der Taliban
will die NATO mit einer eigenen Offensive zuvorkommen und zugleich die Bekämpfung des
Drogenanbaus ernsthaft in Angriff nehmen. Der Druck innerhalb der NATO wächst, mehr
Truppen für die geplante Offensive bereitzustellen. Deutsche Aufklärungstornados sind
nur ein Beispiel. Washington kündigte an, es wolle 10 Mrd. US-Dollar zusätzlich
bereitstellen. Damit sollen vor allem die afghanischen Sicherheitskräfte ausgebaut und
besser ausgestattet werden. Der Löwenanteil des frischen Geldes, das erst noch bewilligt
werden muss, soll wie im Irak für Militär- und Sicherheitskräfte ausgegeben werden. Nur
etwa 2 Mrd. Dollar sind für Wiederaufbau und Drogenbekämpfung vorgesehen. So mancher in
Deutschland bezweifelt, dass so die afghanische Bevölkerung zu gewinnen ist. In die
Verbesserung der Lebensbedingungen und der wirtschaftlichen Zukunftsaussichten werde zu
wenig und zu langsam investiert. Doch dieser Einspruch wird nicht zum Widerspruch:
Deutsche Tornados am afghanischen Himmel wird es geben, beschloss das Bundeskabinett. Ob
es bei Tornados bleibt, muss abgewartet werden. Die Amerikaner haben jetzt das Kommando
über alle ausländischen Truppen in Afghanistan übernommen, also über den Krieg gegen
des Terror (Operation Enduring Freedom) und die NATO-Stabilisierungsmission ISAF. Der Zug
dürfte damit in Richtung militärische Stabilisierung und nicht in Richtung Wiederaufbau
fahren - auch das müsste Anlass für eine Debatte sein.
Schließlich der Balkan: Die Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovos sind
gescheitert. Der europäische Vermittler, Marthi Athisari hat seinen Vorschlag vorgelegt.
Dieser gesteht den Kosovaren viele Insignien eines eigenen Staates zu, verzichtet aber
darauf, das Kosovo schon jetzt in die völlige Unabhängigkeit von Serbien zu entlassen.
Er soll in eine Resolution des UN-Sicherheitsrates münden, die die Aufgaben der
UNO-Mission im Kosovo an die EU überträgt. Brüssel will die Verantwortung für das
weitere Vorgehen und auch die NATO-Mission KFOR ablösen. Das sei erfolgversprechend wie
das Beispiel Bosnien zeige. Zugleich drängen sich Rückfragen auf. Hat die EU Bosnien
politisch und wirtschaftlich ausreichend stabilisiert, um zu verhindern, dass die
bosnische Republika Srbska ihren Anschluss an Serbien verlangt, wenn es in Sachen Kosovo
zu einer neuen Diskussionen über die Staatsgrenzen des Westbalkans kommt? Wäre ein
unabhängiges, von Strukturen der organisierten Kriminalität geprägtes Kosovo
wirtschaftlich überlebensfähig? Ist die Gefahr eines albanischen Aufstandes in
Makedonien bereits endgültig gebannt?
Es wäre an der Zeit, endlich ernsthaft zu diskutieren, ob die EU, die NATO und die
Vereinigten Staaten bei ihren Interventionen die richtigen Strategien verfolgen. Sie
investieren in Stabilität und Sicherheit, weil sie dies als Voraussetzung für
wirtschaftliche Entwicklung betrachten. Dass Letztere auch eine Voraussetzung für
Stabilität ist, gerät gerne in Vergessenheit. Zudem: Wer den eigenen Erfolg zum
"Muss" erklärt, weil er sich den Vorwurf des Scheiterns nicht leisten will,
agiert kurzsichtig. Er läuft Gefahr, sich die eigene Lageanalyse schön zu lügen. Ein
"Weiter so" ist meist die riskante Konsequenz.
Ein Blick zurück auf die Sicherheitskonferenz 2003. Joschka Fischer, damals
Außenminister, hielt eine denkwürdig unbotmäßige Rede: "I am not convinced!"
"Mich habe Sie nicht überzeugt.", hielt er US-Verteidigungsminister
Rumsfeld entgegen und meinte dessen Pläne für einen Krieg gegen den Irak. Gewollt oder
ungewollt: Fischer wirkte wie das Orakel von München. Es bleibt abzuwarten, ob auch 2007
einer der anwesenden Spitzenpolitiker die Unbotmäßigkeit aufbringt, um festzustellen:
"I am not convinced!" Anlass dazu bieten der Balkan, der Irak, Afghanistan und
der Iran. Aber gibt es in München noch ein Orakel?
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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