Frankfurter Rundschau
07. Februar 2007


Das Orakel von München

von Otfried Nassauer

Es ist wie ein Ritual: Seit über 40 Jahren pilgert die sicherheitspolitische Elite des Westens Anfang Februar nach München. Treffpunkt ist der Bayerische Hof, ein altehrwürdiges Nobelhotel. Anlass ist die Wehrkundekonferenz. Heute heißt sie Sicherheitskonferenz. München ist für Sicherheitspolitiker das, was für die ökonomische Elite das Weltwirtschaftsforum in Davos ist. Hier wird die Agenda für das kommende Jahr diskutiert. Beschlüsse werden zwar nicht gefasst, wohl aber Weichen gestellt.

Der Teilnehmerkreis ist illuster. Horst Teltschik, Kanzleramtsminister unter Helmut Kohl, erwartet also Organisator 250 bis 270 Gäste, darunter Kanzlerin Merkel, den russischen Präsidenten Putin, den neuen US-Verteidigungsminister Bob Gates, Javier Solana für die Europäische Union und den NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer. Natürlich werden auch Verteidigungsminister Jung und Außenminister Steinmeier nicht fehlen.

Die Tagesordnung ist allgemein gehalten. Es geht um die EU als regionales Modell für einen Friedens-, Sicherheits- und Wohlstandsraum, die globale Verantwortung der NATO, den Friedensprozess im Nahen und Mittleren Osten und um asymmetrische Bedrohungsszenarien wie den internationalen Terrorismus. Präzise Fragestellungen stören, wenn hohe Entscheitungsträger kommen und das Wort ergreifen. Sie haben oft ihre eigene Agenda. Vage Themen lassen dafür Platz.

Auffällig ist, dass wichtige strittige Themen wie der Balkan, Afghanistan oder der Irak fehlen. Mangelnde Aktualität ist nicht der Grund. Für den Balkan hat der finnische Vermittler Marti Ahtisari soeben seinen Plan zum künftigen Status des Kosovo vorgelegt. Für den Irak präsentierte US-Präsident Bush im Januar eine neue Strategie, mit der ein Scheitern verhindert werden soll. In Afghanistan sieht sich die NATO 2007 vor dem entscheidenden Kampf gegen Taliban und Al Kaida. Alle diese Themen begleiten westliche Sicherheitspolitik seit Jahren. Sie zeigen, mit welch großen Schwierigkeiten westliche Versuche verbunden sind, Staaten nach Interventionen wieder aufzubauen. Auf all diesen Baustellen gibt es noch viel Arbeit. Doch wie diese geleistet werden soll, ist kontrovers.

Im Irak, so George W. Bush, müssen die USA unbedingt Erfolg haben. Bush will deshalb mit mehr Soldaten und erheblich mehr Geld Aufständische bekämpfen und verhindern, dass der Irak im Bürgerkrieg versinkt. Die Hauptarbeit sollen irakischen Sicherheitskräfte erledigen, für deren Verstärkung, Ausbildung und Bewaffnung zusätzliche Milliarden bereitgestellt werden. Sie sollen – unterstützt von US-Truppen – Sicherheit herstellen und Milizen entwaffnen. US-Einheiten sollen sich darum kümmern, den Waffen- und Personalnachschub aus Syrien und dem Iran zu unterbinden. Der Einfluss Irans soll zurückgedrängt werden. Dazu sollen die US-Truppen von geltenden Einsatzrestriktionen befreit werden. Sie sollen ohne Plazet der irakischen Regierung agieren und dürfen jetzt gezielt gegen Iraner im Irak vorgehen, diese festsetzen oder gar töten. Weitere 235 Mrd. Dollar soll der Kongress für 2007 und 2008 zusätzlich bereitstellen, 45 Mrd für 2009.

Doch neu ist die Strategie Bushs nicht. Mit größeren militärischen Ressourcen soll in Zukunft erreicht werden, was bislang mit großen nicht gelang. Unklar ist, ob der demokratisch kontrollierte US-Kongress soviel Gelder bereitstellt. Neu allerdings ist, dass George W. Bush im Irak eine weitere Front im Streit mit dem Iran eröffnet. Dass Bush den Iran noch vor dem Ende seiner Amtszeit angreifen könnte, fürchten viele. John Rockefeller, der besonnene Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des US-Senats, merkte kürzlich an: "Ich habe die Sorge, dass sich hier gerade der Irak wiederholt." In Europa überwiegen die Zweifel an der neuen Irak-Strategie. Ein Angriff auf den Iran würde jedoch als noch katastrophalere Fehlentwicklung gesehen. Anlass für eine Debatte in München wäre es allemal.

In Afghanistan ist es die NATO, die 2007 zum Erfolg verdammt ist. So jedenfalls sieht es die Allianz selbst. Bei einem Scheitern stehe es schlecht um die Zukunft des erfolgreichsten Militärbündnisses der Geschichte. Der Frühjahrsoffensive der Taliban will die NATO mit einer eigenen Offensive zuvorkommen und zugleich die Bekämpfung des Drogenanbaus ernsthaft in Angriff nehmen. Der Druck innerhalb der NATO wächst, mehr Truppen für die geplante Offensive bereitzustellen. Deutsche Aufklärungstornados sind nur ein Beispiel. Washington kündigte an, es wolle 10 Mrd. US-Dollar zusätzlich bereitstellen. Damit sollen vor allem die afghanischen Sicherheitskräfte ausgebaut und besser ausgestattet werden. Der Löwenanteil des frischen Geldes, das erst noch bewilligt werden muss, soll wie im Irak für Militär- und Sicherheitskräfte ausgegeben werden. Nur etwa 2 Mrd. Dollar sind für Wiederaufbau und Drogenbekämpfung vorgesehen. So mancher in Deutschland bezweifelt, dass so die afghanische Bevölkerung zu gewinnen ist. In die Verbesserung der Lebensbedingungen und der wirtschaftlichen Zukunftsaussichten werde zu wenig und zu langsam investiert. Doch dieser Einspruch wird nicht zum Widerspruch: Deutsche Tornados am afghanischen Himmel wird es geben, beschloss das Bundeskabinett. Ob es bei Tornados bleibt, muss abgewartet werden. Die Amerikaner haben jetzt das Kommando über alle ausländischen Truppen in Afghanistan übernommen, also über den Krieg gegen des Terror (Operation Enduring Freedom) und die NATO-Stabilisierungsmission ISAF. Der Zug dürfte damit in Richtung militärische Stabilisierung und nicht in Richtung Wiederaufbau fahren - auch das müsste Anlass für eine Debatte sein.

Schließlich der Balkan: Die Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovos sind gescheitert. Der europäische Vermittler, Marthi Athisari hat seinen Vorschlag vorgelegt. Dieser gesteht den Kosovaren viele Insignien eines eigenen Staates zu, verzichtet aber darauf, das Kosovo schon jetzt in die völlige Unabhängigkeit von Serbien zu entlassen. Er soll in eine Resolution des UN-Sicherheitsrates münden, die die Aufgaben der UNO-Mission im Kosovo an die EU überträgt. Brüssel will die Verantwortung für das weitere Vorgehen und auch die NATO-Mission KFOR ablösen. Das sei erfolgversprechend wie das Beispiel Bosnien zeige. Zugleich drängen sich Rückfragen auf. Hat die EU Bosnien politisch und wirtschaftlich ausreichend stabilisiert, um zu verhindern, dass die bosnische Republika Srbska ihren Anschluss an Serbien verlangt, wenn es in Sachen Kosovo zu einer neuen Diskussionen über die Staatsgrenzen des Westbalkans kommt? Wäre ein unabhängiges, von Strukturen der organisierten Kriminalität geprägtes Kosovo wirtschaftlich überlebensfähig? Ist die Gefahr eines albanischen Aufstandes in Makedonien bereits endgültig gebannt?

Es wäre an der Zeit, endlich ernsthaft zu diskutieren, ob die EU, die NATO und die Vereinigten Staaten bei ihren Interventionen die richtigen Strategien verfolgen. Sie investieren in Stabilität und Sicherheit, weil sie dies als Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung betrachten. Dass Letztere auch eine Voraussetzung für Stabilität ist, gerät gerne in Vergessenheit. Zudem: Wer den eigenen Erfolg zum "Muss" erklärt, weil er sich den Vorwurf des Scheiterns nicht leisten will, agiert kurzsichtig. Er läuft Gefahr, sich die eigene Lageanalyse schön zu lügen. Ein "Weiter so" ist meist die riskante Konsequenz.

Ein Blick zurück auf die Sicherheitskonferenz 2003. Joschka Fischer, damals Außenminister, hielt eine denkwürdig unbotmäßige Rede: "I am not convinced!" – "Mich habe Sie nicht überzeugt.", hielt er US-Verteidigungsminister Rumsfeld entgegen und meinte dessen Pläne für einen Krieg gegen den Irak. Gewollt oder ungewollt: Fischer wirkte wie das Orakel von München. Es bleibt abzuwarten, ob auch 2007 einer der anwesenden Spitzenpolitiker die Unbotmäßigkeit aufbringt, um festzustellen: "I am not convinced!" Anlass dazu bieten der Balkan, der Irak, Afghanistan und der Iran. Aber gibt es in München noch ein Orakel?


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS