Kommentar bei der außenpolitischen
Jahrestagung der Heinrich Böll-Stiftung, 2003
13. November 2003

Asymmetrische Risiken - Ein Pladoyer für eine europäische Politik aktiver Asymmetrie

von Otfried Nassauer

Lassen Sie mich gleich mit einer interessanten Frage zur Sache kommen: Was haben die Heinrich Böll-Stiftung, Thomas L. Friedman, der berühmte Kolumnist der New York Times und der Leiter der UNO-Inspekteure im Irak Hans Blix gemeinsam? Sie alle haben in jüngster Zeit direkt oder indirekt die Frage aufgeworfen, ob Europa und die USA sich auseinanderentwickeln, weil für Europa nunmehr das Ende des Kalten Krieges 1989 das identitätsstiftende Bezugsdatum sei, während für die USA heute der 11.9.2001 diese Funktion habe. Im Gegensatz zu den Zeiten des Kalten Krieges gebe es damit heute kein gemeinsames Bezugsdatum mehr, wie dies mit dem Jahr 1945 früher der Fall war.

Diese Erklärung möchte ich anzweifeln. Ich halte sie für unzureichend. Sie ist ein schönes Bonmot, aber sie erklärt die unterschiedlichen Entwicklungen nicht wirklich hinreichend. Ein Kern des transatlantischen Problems liegt heute in der unterschiedlichen Sichtweise der Risikopotentiale der Zukunft. Während des Kalten Krieges sah man auf beiden Seiten des Atlantiks die Bedrohung sehr ähnlich: Ein Nuklearkrieg zwischen Ost und West würde alle NATO-Staaten gleichermaßen einer absoluten Existenzgefährdung aussetzen. Eine solche gemeinsame Bedrohungsperzeption gibt es heute nicht mehr. Und: Eine solches Gefühl der Bedrohung selbst staatlicher Existenz gibt es heute auch nicht mehr.

Für die USA hat dagegen der 11.9.2001 eine neue Erfahrung impliziert. Das Ende des amerikanischen Traums von der Unverwundbarkeit Amerikas wurde eingeläutet. Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen werden deshalb als Bedrohungen betrachtet, denen mit asymmetrischer Abschreckung begegnet werden muß. Von manchen werden sie sogar als existenzgefährdende Bedrohungen geschildert, die es militärisch zu eliminieren gilt. Aber sind sie das wirklich? Kann man sie wirklich mit der existenzgefährdenden Bedrohung eines Nuklearkrieges zwischen Ost und West vergleichen? Sind Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, zerfallende Staaten, Organisierte Kriminalität oder die globale Erwärmung nicht eher Risiken oder besser vielleicht noch Restrisiken? Ich glaube, die Europäische Sicherheitsstrategie tut gut daran, diese Faktoren als Risiken zu beschreiben. Risiken sind nichts Ungefährliches. Im Gegenteil, sie können katastrophale Auswirkungen haben. Risiken kann man minimieren, ganz ausschalten, eliminieren kann man sie dagegen kaum. Und: Um diese Restrisiken so weit wie möglich zu reduzieren, dazu bedarf es vorrangig nicht-militärischer Mittel, Mittel, die helfen die Entstehungsursachen dieser Risiken zu bekämpfen und deren Aufwuchs zu begrenzen und einzudämmen.

Sicherheit kann angesichts des Charakters dieser Risiken heute nicht mehr national gewährleistet werden. Sicherheit kann angesichts dieser Risiken nur durch die Integration aller außenpolitischen Wirkinstrumente und aller für die Risikominderung relevanten Instrumente der Innenpolitik geschaffen werden. Auf nationaler Ebene und auf europäischer Ebene.

Lassen Sie mich an dieser Stelle vier Vorschläge für die Weiterentwicklung der EU-Sicherheitsstrategie machen:

  1. Die Strategie weist darauf hin, daß Sicherheit die Voraussetzung für Entwicklung sei. Das ist nur die halbe Wahrheit. Entwicklung ist auch eine Voraussetzung für Sicherheit.
  2. Daraus ergibt sich: Der EU-Sicherheitsstrategie fehlt bislang noch die ökonomische Seite. Sowohl im Hinblick auf die Analyse von Krisenursachen als auch im Hinblick auf das sicherheitspolitische Instrumentarium. Die Hineinnahme der ökonomischen Dimension würde die nicht-militärische Seite des Krisenmanagements weiter stärken.
  3. Die EU-Sicherheitsstrategie plädiert für ein frühzeitiges, proaktives, präventives Krisenmanagement mit Vorrang für nichtmilitärische Mittel. Dessen Charakter und die damit verbundene Bereitschaft, potentielle Krisen frühzeitig und rechtzeitig zu identifizieren, damit nichtmilitärische Krisenmanagementkapazitäten ihre Wirksamkeit entfalten können, sollte stärker herausgearbeitet werden. Eine solche Politik impliziert die Bereitschaft zum "Agenda-Setting".
  4. Eine Sicherheitspolitik aus einem Guß, die die Vorrangigkeit nicht-militärischer Instrumente anerkennt, muß auch von entsprechenden Ressourcen begleitet sein. Nicht nur das Mittel Militär will vorgehalten sein, sondern auch die nicht-militärischen Fähigkeiten des Krisenmanagements. Die EU erkennt dies an, indem sie zivile Krisenmanagementkapazitäten aufbaut. Dies bedingt eine Neuaufteilung und Neugewichtung bei der Ressourcenverteilung.

Europas Interessen sind nicht identisch mit denen der USA. Übereinstimmung und Gemeinsamkeiten überwiegen zwar, es gibt aber auch gravierende Unterschiede. So muß Europa an Multilateralismus und kooperativer Multipolarität ebenso interessiert sein wie an einer weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und an einer Stärkung internationaler Regime und Institutionen. Europa muß ein Interesse haben, daß auf Krisen frühzeitig und mit vorrangig nichtmilitärischen Mitteln reagiert wird, nicht aber spät und mit vorrangig militärischen Instrumenten. Und es muß ein Interesse haben, darüber, wie auf Krisen und Konflikte reagiert wird, auch gegenüber Washington ein Mitentscheidungsrecht zu haben. Dies setzt voraus, daß Europa bei der Gestaltung von Weltordnung verantwortlich mitwirkt und glaubwürdige Fähigkeiten besitzt, um dies zu tun. Sicherheitspolitik ist bekanntlich eine Gestaltungsaufgabe.

Die Stärken der europäischen Fähigkeiten liegen im zivilen Bereich, in der Fähigkeit zu sozialer, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Intervention. Um diese zu Geltung und Wirkung zu bringen, muß Europa sich frühzeitig in Krisen engagieren. Der Früherkennung von gewaltförmigen Konflikten und der Gewaltprävention muß aus europäischer Sicht Vorrang vor der Eindämmung und Einhegung von Gewalt zukommen. Der Gewalteindämmung und -einhegung wiederum muß Vorrang vor der Bekämpfung von Gewalt mit Gewalt, d.h. vor Interventionen, zukommen. Glaubwürdige militärische Mittel können Europa als letztes Mittel dienen, um andere Formen des Konfliktmanagements abzusichern, sind aber kein Selbstzweck und können aufgrund des Charakters der sicherheitspolitischen Restrisiken nicht primäres Mittel europäischer Wahl sein. Sie können weder die Risiken, noch die Ursachen für deren Entstehung ausschalten. Prävention und Präemption müssen feste Bestandteile einer künftigen europäischen Sicherheitspolitik sein –mit nichtmilitärischen Mitteln. Damit Europa seine Stärken ausspielen kann, darf die EU nicht länger darauf verzichten, die globale Tagesordnung mitzubestimmen. Sie muß Zukunftskonflikte und Zukunftsrisiken benennen, Wege und Mittel zum Umgang mit ihnen vorschlagen.

Und so unangenehm es auch für manchen klingen mag: Ein Mitentscheidungsrecht über den Umgang mit künftigen Krisen und Konflikten wird sich Europa in Washington nur sichern können, wenn es begrenzte, aber glaubwürdige eigene Mittel zur Mitwirkung bei militärischen Handlungsoptionen besitzt. Solche Mittel zu besitzen, heißt nicht, sie auch einzusetzen. Es impliziert, sie als letztes Mittel einsetzen zu können. Es impliziert aber auch die Möglichkeit, den Einsatz abzulehnen und damit dem Drängen auf eine nichtmilitärische Lösung höhere Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Wenn Europa seine Stärken wirklich zur Geltung bringen will, dann steht es vor der Herkulesaufgabe einer dreifachen Integration, mit der es seine sicherheitspolitischen Gestaltungsinstrumente effizienter und wirksam machen muß: Integriert werden müssen erstens die nationalen Politiken, zweitens die vergemeinschafteten und intergouvernementalen Aspekte der europäischen Zusammenarbeit und drittens die möglichen Gestaltungsmittel und Wirkungsinstrumente. Ziel muß eine europäische Sicherheitspolitik aus einem Guß sein: von humanitärer Hilfe und Sanktionen über Entwicklungspolitik, Außenwirtschaftspolitik, internationaler Finanzpolitik, Rüstungsexport, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung bis hin zu den Mitteln des zivilen und militärischen Krisenmanagements.

Mithin: Europa kann und sollte nicht versuchen, die USA oder die US-Politik zu kopieren. Europa sollte auf die neuen asymmetrischen Risiken mit einer Politik aktiver Asymmetrie mit dem Ziel bestmöglicher Risikominderung antworten.

Europas Stärken liegen im zivilen Krisenmanagement. Das ist das Standbein. Militärische Fähigkeiten können die zivilen ergänzen und abstützen. Aber sie sind das Spielbein. Europa ist fußball-verrückt genug, als das es wissen müßte, daß Stand- und Spielbein nicht verwechselt werden dürfen. Würden sie verwechselt, wäre Europa ein schwacher Spieler im westlichen Team. Auch Amerika dürfte eigentlich kein Interesse daran haben, daß Europa Spielbein und Standbein verwechselt. Und doch: Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Washington Europa immer wieder dazu auffordert. Aber vielleicht liegt das ja daran, daß in den USA mehr Football als Fußball gespielt wird.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).