„Haben Sie Lust auf einen Atomkrieg aus Versehen?“
im Gespräch mit Otfried Nassauer
Die
UNO-Generalversammlung hat Ende März mit Verhandlungen
über ein vollständiges Verbot von Atomwaffen
begonnen. Deutschland nimmt aus Rücksicht auf die USA und die
NATO nicht teil. Warum ist das problematisch?
Otfried Nassauer: Weil die Bundesrepublik als nicht-nukleares Mitglied
des Atomwaffensperrvertrags (NPT) damit mehrere höchst
problematische Signale aussendet. Sie positioniert sich klar auf Seiten
der Atomwaffenstaaten, die diesen Prozess boykottieren, und nicht auf
Seiten der nicht-nuklearen Staaten, die den Bau und Besitz von
Atomwaffen verbieten und völkerrechtlich delegitimieren
wollen. Der Vertrag ist ja vor einem halben Jahrhundert als
völkerrechtliches Unikum auf Zeit abgeschlossen worden. Nicht
alle Mitgliedsstaaten haben die gleichen Rechte und Pflichten.
Fünf Staaten, die traditionellen Atommächte, sind
gleicher als gleich und dürfen Atomwaffen besitzen,
vorübergehend, sind aber zur Abrüstung dieser Waffen
verpflichtet. Jetzt tun sie so, als sei der Besitz ein Privileg
für alle Ewigkeit. Zweitens verstärkt die
Bundesrepublik damit die Befürchtung, dass die Staaten, die an
der nuklearen Teilhabe der NATO mitwirken, so etwas wie quasi-nukleare
Staaten sind, zumindest aber Staaten, die sich im Zweifel
ähnlich wie nukleare Staaten positionieren. Und drittens
stellt Deutschland damit ohne Not die Glaubwürdigkeit seiner
eigenen atomare Abrüstungsrhetorik in Frage.
Zugeben muss ich aber auch, dass die Bundesregierung sich in einer
gewissen Zwickmühle befindet: In der NATO gibt es Mitglieder
wie Polen, die Russland gerne selbst mit US-Atomwaffen auf ihrem
eigenen Territorium gegenüberstehen würden. Deren
Ambitionen will die Bundesregierung offenbar entgegenwirken und
verhindern, dass am Status quo gerüttelt oder die
Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner in
Frage gestellt wird.
Trump hat im
Wahlkampf betont, dass er das Atomwaffenpotential der USA
stärken will. Aber angekündigt hat er in dieser Phase
vieles. Durchsetzen konnte er bisher nur wenig. Also Sturm im
Wasserglas?
Nassauer: Nein. Er hat das nach seiner Vereidigung nicht
nur wiederholt, sondern erhöht das US-Rüstungsbudget
deutlich und stärkt auch die atomaren Modernisierungsvorhaben.
Wie weit er in diese Richtung gehen will und wird, werden wir
voraussichtlich erst genauer wissen, wenn er nach einem Jahr im Amt dem
Kongress den gesetzlich vorgeschriebenen Nuclear Posture Review (NPR)
vorlegen muss. Darin muss er beschreiben, wie das US-Nuklearpotential
und die Rolle dieser Waffen künftig aussehen sollen.
Sorgen macht mir außerdem, dass die Trump-Administration
bereits die Zukunft von zwei atomaren
Rüstungskontrollverträge indirekt in Frage stellt
hat: Der Präsident hat den New START-Vertrag, der den USA und
Russland im Großen und Ganzen gleich starke strategische
Atomwaffenpotentiale erlaubt, als „schlechten Deal“
bezeichnet und darüber hinaus hat die neue Administration die
Vorwürfe der Obama-Regierung übernommen, Moskau
verletze den INF-Vertrag, der beiden Staaten landgestützte
Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometer
verbietet. Sie hat diese sogar noch verschärft: Russland habe
landgestützte Marschflugkörper verbotener Reichweite
stationiert, so der Vorwurf. Wirklich nachvollziehbare Beweise
für diese Behauptung liegen für die
Öffentlichkeit bisher nicht auf dem Tisch.
Der INF-Vertrag
beendete 1987 die Ost-West-Krise um die sowjetischen SS-20-Raketen und
die Pershing-II-Raketen sowie die bodengestützten
Marschflugkörper der USA in Westeuropa. Ist der heute noch von
Bedeutung?
Nassauer: Ja, sogar von erheblicher Bedeutung. Es war
der erste atomare Abrüstungsvertrag überhaupt. Er
wirkte vertrauensbildend und läutete eine Trendwende ein: Mit
ihm begann nach Jahrzehnten weitgehend ungezügelten nuklearen
Wettrüstens eine lange Phase atomarer Abrüstung.
Beide Supermächte besaßen damals etliche Zehntausend
nuklearer Waffen, heute haben sie nur noch einige Tausend. Gerade
Europa hat davon profitiert. Im Vergleich zu damals ist die
Sicherheitspolitik in Europa sogar weitgehend entnuklearisiert worden.
Hier lagern heute nicht mehr 5.000 taktische US-Atomwaffen, sondern nur
noch 150-200, wenn man die Türkei mitzählt. Damals
gab es ernst zu nehmende Befürchtungen, die
Supermächte könnten versuchen, einen atomaren Krieg
auf Europa zu begrenzen. Diese Angst spielte danach lange kaum noch
eine Rolle, weil die verbliebenen Atomwaffen praktisch keinen
militärischen Nutzen mehr hatten. Eine Rückkehr zu
einer Situation, in der Atomwaffen nicht nur als politische Waffen
betrachtet werden, ist keinesfalls wünschenswert. Genauso
wenig wie ein Ausstieg aus der atomaren Abrüstung und
Rüstungskontrolle.
Was wären
die Folgen, sollte der Vertrag aufgekündigt werden?
Nassauer: Würde der INF-Vertrag
gekündigt, so wäre damit zu rechnen, dass die
vertraglich vereinbarte, atomare Rüstungskontrolle deutlich an
Gewicht verliert und es wäre möglicherweise der
Startschuss für eine neue Trendwende, hinein in einen neuen
nuklearen Aufrüstungswettlauf, Europa eingeschlossen. Seit
2010 und mehr noch seit der Krise um die Ukraine und die Krim 2014
werden die Stimmen, die den atomaren Waffen in Europa wieder mehr
Gewicht geben wollen, ja vernehmbar lauter. Nicht zuletzt auch in
Deutschland.
Trump hat die NATO als „obsolet“ bezeichnet und
wiederholt durchblicken lassen, dass nur noch die
Bündnispartner mit dem Schutz der USA rechnen können,
die genug zahlen. Und zwar mindestens zwei Prozent ihres
Bruttoinlandsproduktes.
Welche Reaktionen
hat das in Europa hervorgerufen?
Nassauer: Vor allem große Verunsicherung und
Unsicherheit. Viele europäische Politiker aus NATO-Staaten
haben sich bemüht, die US-Administration zu einem
öffentlichen Bekenntnis zu ihren traditionellen
Bündnisverpflichtungen zu bewegen. Bei der Münchener
Sicherheitskonferenz konnte man das gut beobachten. Andere, wie der
CDU-Politiker Kiesewetter oder der polnische Nationalkonservative
Kaczynski schienen es für klug zu halten, die
US-Administration darauf aufmerksam zu machen, welche Debatten
über eine westeuropäische Atommacht oder gar deutsche
Atomwaffen ausbrechen könnten, wenn die Nukleargarantie der
USA wegfallen würde.
Der polnische
PiS-Führer Jaroslaw Kaczynski wünscht sich Europa als
„atomare Supermacht“. Sind westeuropäische
Atomwaffen eine mögliche Antwort auf die transatlantische
Reserviertheit der neuen US-Regierung?
Nassauer: Theoretisch ja, praktisch nein. Ich glaube
nicht, dass Kwaczynski das wirklich wünscht. Er hat im
gleichen Atemzug gesagt, ein europäisches Atompotential
müsse dann stark genug sein, um mit Russland mitzuhalten. Das
ist aber völlig unrealistisch. Die Briten und Franzosen haben
zusammen rund 550 Atomwaffen, einen Bruchteil dessen, was die USA oder
Russland noch besitzen. Woher sollen die Westeuropäer denn die
Ressourcen für ein vergleichbares Nuklearpotential nehmen?
Ganz zu schweigen von dem politischen Willen. Angesichts des
bevorstehenden BREXITs dürften die Zweifel an der
Umsetzbarkeit der Idee einer westeuropäischen Atommacht eher
noch wachsen.
Was halten Sie von
einer wie auch immer gearteten Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland an der Force de Frappe? Finanziell und/oder logistisch?
Nassauer: Frankreich hat wiederholt mit der Idee
geliebäugelt, Deutschland unter den französischen
Atomschirm schlüpfen zu lassen. Wahrscheinlich auch in der
Hoffnung auf eine Kofinanzierung. Für Deutschland war das
bislang nicht attraktiv, weil es seine Interessen in der NATO besser
gewahrt sieht. Dort ist es in die nukleare Planung einbezogen und
glaubt, über die sogenannte nukleare Teilhabe – vor
allem durch die Bereitstellung von Tornado-Jagdbombern als
Trägersysteme für die noch hier gelagerten
US-Atombomben – hinreichend mitreden zu können. Ob
das bei einer Zusammenarbeit mit Paris auch gegeben wäre,
bezweifeln viele. Und die Mitsprachemöglichkeiten in der NATO
will man ja auch nicht aufgeben.
Welche Rolle spielt
das britische Nukleararsenal?
Nassauer: Das britische Nuklearpotential ist technisch
von der Zusammenarbeit mit Washington abhängig. Das
Grunddesign der Sprengköpfe kommt aus den USA, Teile der
U-Boot-Technik auch. Die Trägerraketen für die
Atomsprengköpfe sind gar von Washington geleast. Für
eine wirklich unabhängige westeuropäische Atommacht
sind das keine guten Voraussetzungen. Der britische Beitrag
wäre immer ein Beitrag von Washingtons Gnaden. Technisch ist
London bei Nuklearwaffen eher so etwas wie eine Kolonie Washingtons,
die gewisse Autonomierechte genießt.
Nun gibt es ja
hierzulande auch Stimmen, die sagen, Deutschland solle atomar
rüsten …
Nassauer: Wie bitte? Deutsche Atomwaffen? Der Verzicht
auf atomare, chemische und biologische Waffen im 2+4-Vertrag war eine
wesentliche Voraussetzung dafür, dass die
Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die deutsche Einheit
akzeptiert haben – gerade auch die europäischen
Siegermächte. Außerdem ist Deutschland
nichtnukleares Mitglied des Atomwaffensperrvertrags. Wer nach einer
deutschen Atomwaffe ruft, kennt entweder die völkerrechtlichen
Verpflichtungen Deutschlands nicht oder meint, die Bundesrepublik
könne da mir nichts, dir nichts und ohne großen
Schaden aussteigen. Würde Deutschland das aber tun,
bräche das globale Nichtverbreitungssystem in Gestalt des
NPT-Vertrages und der Nuclear Suppliers Group vermutlich ziemlich
schnell zusammen.
Dass Deutschland nicht selbst über Atomwaffen
verfügt, ist eine sicherheitspolitisch kluge, freiwillige
Selbstbeschränkung, die nicht zuletzt dazu beiträgt,
dass unsere europäischen Nachbarn etwas besser mit dem
wirtschaftlichen Übergewicht Deutschlands in Europa leben
können.
Zusatzfrage:
Wer deutsche Atomwaffen fordert, macht die Rechnung mit oder ohne
Frankreich und Großbritannien?
Nassauer: Wer deutsche Atomwaffen fordert, vertritt
einen nationalistischen, anti-europäischen und
anti-amerikanischen Standpunkt. Diese Forderung läuft darauf
hinaus, bei möglichst vielen Menschen in Europa
Ängste vor einem wirtschaftlich und militärisch
völlig dominanten Deutschland hervorzurufen. Das gilt
natürlich auch in Frankreich und vor allem in
Großbritannien. Übrigens: Würde Deutschland
– wie von Donald Trump gefordert – zwei Prozent des
Bruttoinlandprodukts für sein Militär ausgeben,
hätte das eine ähnliche Wirkung. Die Briten und die
Franzosen müssten sich dann entscheiden, ob sie ihren Staat
finanziell ruinieren oder mit einem auch militärisch
dominanten Deutschland leben wollen.
Was würde
eine nukleare Selbstermächtigung EU-Europas, nicht zuletzt
Deutschlands, für das Verhältnis zu Russland bedeuten?
Nassauer: Nichts Gutes. Sowohl nukleare Abschreckung als
auch nukleare Abrüstung sind leichter zu denken und zu
verhandeln, wenn es möglichst wenig beteiligte Akteure gibt.
Je mehr Akteure, desto komplizierter wird es. Das zeigt sich schon am
Beispiel der NATO- und EU-Erweiterungen. Die NATO kann sich seit Jahren
nicht einigen, unter welchen Bedingungen oder bei welchen
Verhandlungsergebnissen mit Russland sogenannte taktische, also
nicht-strategische Atomwaffen in Europa verzichtbar wären.
Schlicht, weil es keinen Konsens gibt und einige NATO-Mitglieder lieber
mehr als weniger dieser Waffen auf europäischem NATO-Gebiet
hätten. Was sollte da bei einer europäischen
Nuklearmacht besser werden?
Das russische Bruttoinlandsprodukt lag übrigens 2015 bei rund
40 Prozent des deutschen und ist stark von den Öl- und
Gaspreisen abhängig. Bei Russland kann man gut beobachten, wie
stark ein großes Nuklearpotential einen Staat und dessen
Wirtschaft auch belasten kann.
Es sind ja nach wie
vor US-Kernwaffen auf deutschem Boden stationiert, um genau zu sein:
auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz, was die Frage
aufwirft, wie sich diese nukleare Teilhabe in mögliche atomare
Optionen Deutschlands einordnet?
Nassauer: In Büchel lagern heute noch bis zu 20
Atombomben der Typen B61-3 und B61-4. Die kleinere B61-4 hat die
vierfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Diese Waffen werden von
US-Soldaten bewacht und gewartet. Eingesetzt werden können sie
nur, wenn der US-Präsident sie freigibt. Deutsche
Tornado-Flugzeuge mit deutschen Besatzungen würden den von
NATO-Stäben geplanten Einsatz im Ernstfall
durchführen. Das ist der technische Teil der nuklearen
Teilhabe. Und es ist das von der deutschen Politik seit Jahrzehnten
bevorzugte Modell nuklearer Beteiligung und Mitsprache. Eine Abkehr von
dieser Prioritätensetzung sehe ich nicht. Im Gegenteil: Die
deutsche Luftwaffe informiert sich über den künftigen
Nuklearwaffenträger der USA, den F-35-Jet, weil sie
über einen Nachfolger für den Tornado nachdenkt. Das
bedeutet doch auch, dass die Luftwaffe gerne bis über das Jahr
2050 hinaus an der nuklearen Teilhabe festhalten würde.
Ich wüsste
übrigens nicht, dass die Luftwaffe sich in Paris auch schon
nach einer nuklearfähigen Rafale erkundigt hätte.
Die B61-Modelle gelten als militärisch überaltert.
Was geschieht mit diesem Potenzial in den nächsten Jahren?
Nassauer: Die USA entwickeln derzeit eine modernisierte,
deutlich zielgenauere, weil lenkbare und militärisch
nutzbarere Version der B61, die auch als Ersatz für die in
Büchel gelagerten B61 gedacht ist. Die Stationierung der
B61-12 soll Anfang des nächsten Jahrzehntes beginnen.
Gleichzeitig arbeiten die USA an der Integration der neuen Bombe in den
Tornado und in andere Flugzeuge.
Wie ist die
Bundesrepublik dabei finanziell engagiert?
Nassauer: Deutschland muss den Tornado einsatzbereit
halten, um die Flugzeuge bis 2035 nutzen zu können. Die
Luftwaffe würde sich vielleicht gerne auch schon
früher ein Nachfolgeflugzeug zulegen, um von der derzeitigen
Steigerung der Rüstungsausgaben zu profitieren. Mit der
NATO-Daueraufgabe „Nukleare Teilhabe“ kann man ja
die Existenz eines ganzen zusätzlichen Geschwaders
begründen. Auch daher rührt das aktuelle Interesse an
der amerikanischen F-35.
Außerdem trägt Deutschland die Kosten für
den Standort Büchel und die deutschen Soldaten dort. Der
Fliegerhorst soll für eine dreistellige Millionensumme
modernisiert werden. Hinzu kommt ein Kostenanteil an dem NATO-Programm
für die nuklearen Lagerstätten in Europa.
Schließlich bleibt abzuwarten, ob die Integration der neuen
Bombe von Deutschland zu finanzierende technische Änderungen
am Tornado erfordert.
Die
Tornado-Kampfbomber haben aber von Büchel aus keine
ausreichende Reichweite, um wirklich relevante Ziele in Russland zu
erreichen. Was soll das Ganze militärisch überhaupt?
Nassauer: Die Tatsache, dass die Atomwaffen in
Büchel, Kleine Brogel (Belgien) oder Volkel (Niederlande) von
ihren Standorten aus nach dem Ende des Kalten Krieges keinen klar
erkennbaren militärischen Zweck mehr erfüllen
konnten, unterstrich deren primär politische Rolle im
Instrumentarium der Abschreckung. Sie waren da als Symbol des
US-Nuklearschirms, hätten aber erst nach vorne verlagert
werden müssen, um wieder militärisch relevante Ziele
bedrohen zu können.
Wie sähe es
anstelle des Tornado mit amerikanischen F-35 aus?
Nassauer: Mit der F-35 würde sich bei gleichen
Standorten daran nichts grundlegend ändern. Was sich
verändert ist, dass dieses volldigitalisierte Flugzeug die
digitalisierten Bomben des Typs B61-12 noch zielgenauer einsetzen kann
als der Tornado.
Ist die nukleare Teilhabe nicht ein Verstoß
gegen den von Deutschland ratifizierten Atomwaffensperrvertrag?
Nassauer: Ja und nein – je nach Sichtweise.
Die NATO sagt, dass die USA vor dem Inkrafttreten des
Atomwaffensperrvertrags durch einen Brief des
US-Außenministers kundgetan habe, dass sie die Teilhabe als
vertragskonform betrachten werde. Dieser Brief war aber vielen
Ländern nicht bekannt, als sie den Vertrag unterzeichneten.
Seither wird durch die nukleare Teilhabe eine Gruppe von
Ländern geschaffen, die es dem Vertragstext nach eigentlich
nicht gibt – nicht-nukleare Vertragsmitglieder, die die
Atomwaffen eines nuklearen Staates im Auftrag ihres
Militärbündnisses, der NATO, einsetzen
können. Also quasi-nukleare Staaten. Viele Kritiker halten das
– und meines Erachtens zu recht – für eine
Verletzung des Vertrags.
2009 stand im
Koalitionsvertrag der damaligen CDU/CSU-FDP-Regierung, man wolle die
Amerikaner zum Abzug der in Deutschland dislozierten Nuklearsysteme
bewegen. Warum ist das nicht geschehen?
Nassauer: Ganz einfach: Die CDU hatte zwar zugestimmt,
den Punkt in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, weil dieser sonst wohl
nicht zustande gekommen wäre. Der damalige FDP-Chef Guido
Westerwelle war dabei die treibende Kraft. Kurz darauf hat das
Kanzleramt aber die Berliner US-Botschaft in Kenntnis gesetzt, die
Kanzlerin nehme die betreffende Passage nicht ernst. Herrn Westerwelle
hat man dann am ausgestreckten Arm verhungern lassen.
Obamas Nuclear
Posture Review aus dem Jahr 2010 fußte auf einem
innenpolitischen Deal in Amerika: Die Republikaner ließen den
New START-Vertrag im Senat passieren und im Gegenzug legte Obama ein
umfassendes Modernisierungsprogramm für die gesamte nukleare
Triade der USA aus land-, see- und luftgestützten
Trägersystemen samt zugehörigen Sprengköpfen
auf. Was wird aus diesem Deal unter der Trump-Administration?
Nassauer: Das ist noch schwer vorherzusagen. Sicher ist
nur: Donald Trump will mehr Geld fürs Militär
ausgeben, und es bleibt vorläufig bei der umfassenden
nuklearen Modernisierungsplanung Obamas. Trump muss, wie
erwähnt, im nächsten Jahr dem Kongress auch einen NPR
vorlegen. Der wird stark beeinflussen, ob und was die NATO auf ihrem
Gipfel 2018 zum Thema Nuklearwaffen beschließt: Werden die
Atombomben in Europa eins zu eins ausgetauscht? Steigt deren Zahl,
kommen neue Standorte hinzu? Bleibt es dabei, dass keine Atomwaffen in
den neuen Mitgliedsstaaten der NATO stationiert werden? Das hatte man
Russland ja in der NATO-Russland-Grundlagenakte 1997 politisch
verbindlich zugesagt. Oder bricht man diese Zusage unter Verweis auf
die Tatsache, dass die Zusage nur unter den damaligen und
vorhersehbaren Umständen galt? Kommt es erneut zu einer
Diskussion über die Möglichkeit eines auf Europa
begrenzbaren Atomkriegs?
Fachleute
prognostizieren unter anderem im Zusammenhang mit der erhöhten
Treffsicherheit künftiger Trägersysteme und
Sprengköpfe ein Anwachsen nuklearer Kriegsgefahr? Teilen Sie
diese Auffassung?
Nassauer: Wenn die verfügbaren Atomwaffen
künftig weniger Sprengkraft haben und aufgrund ihrer
gesteigerten Zielgenauigkeit trotzdem eine größere
Zerstörungswahrscheinlichkeit für die Ziele erreichen
können und zugleich weniger ungewollte
Kollateralschäden hervorzurufen versprechen, dann sinkt die
Hemmschwelle, sie einzusetzen. Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit,
dass sie als effektives Mittel der Kriegführung betrachtet und
deshalb auch wieder entsprechende Einsatzplanungen entwickelt werden.
Die Verlockung, von einem entwaffnenden Erstschlag gegen die andere
Seite zu träumen, könnte erneut eine Rolle spielen.
Das System nukleare Abschreckung würde also in mehrfacher
Hinsicht labiler. Insofern wird zu recht ein Anstieg der nuklearen
Kriegsgefahr befürchtet – was besonders ins Gewicht
fällt, wenn politische Führer die Kontrolle
über nukleare Potentiale haben, die keine Garantie
dafür bieten, sich jederzeit rational zu entscheiden und vor
allem sich jederzeit daran zu erinnern, dass Atomwaffen nur solange
abschreckend wirken, wie sie nicht eingesetzt werden.
Als nukleare Erstschlagsfähigkeit wird das Vermögen
einer Atommacht definiert, einen nuklearen Gegner durch einen
Überraschungsangriff soweit atomar zu entwaffnen, dass ihm
– gegebenenfalls in Kombination mit Raketenabwehrsystemen
– ein vernichtender Gegenschlag verwehrt würde. Dann
würde das grundlegende Axiom der gegenseitigen nuklearen
Abschreckung – „Wer zuerst schießt,
stirbt als zweiter.“ – nicht mehr gelten. Das
impliziert (allerdings unter Ausklammerung aller klimatischen,
biologischen und sonstigen Kollateralschäden massenhaften
Kernwaffeneinsatzes) die Vorstellung vom möglichen Sieg im
Atomkrieg.
Strategische
Sandkastenspiele in dieser Richtung hat es insbesondere in den USA
immer wieder gegeben. Halten Sie eine Renaissance dieser Denkart
für möglich?
Nassauer: Richtig, gegeben hat es diese Gedankenspiele
immer wieder einmal, aber vor allem bei spieltheoretisch orientierten
Strategiedenkern, die selbst keine Entscheidung über einen
Atomwaffeneinsatz hätten treffen müssen. Es gibt sie
auch heute noch, weil sich in solchen Überlegungen noch immer
der Traum von der Unverwundbarkeit Amerikas spiegelt. In Russland haben
solche Gedankenspiele aber dazu geführt, dass der Erhalt einer
gesicherten Zweitschlagsfähigkeit auch gegen eine Kombination
aus modernsten nuklearen und konventionellen Angriffswaffen sowie einer
US-Raketenabwehr, die Moskaus Waffen für den Zweitschlag
abfangen sollen, zu einer strategischen Fixierung geworden ist. Genau
da liegt aber auch eine große Gefahr: Diese Art zu denken,
be- und verhindert Abrüstungsschritte, die sonst vielleicht
möglich wären.
Russland hat
„Erstschlags“-Befürchtungen in Richtung
USA wiederholt geäußert – vor allem im
Zusammenhang mit der Einführung neu entwickelter
Raketenabwehrsysteme durch Washington und deren Stationierung nahe
russischer Grenzen, bisher in Rumänien und im Mittelmeer,
künftig auch in Polen. Sind diese Systeme technisch
überhaupt in der Lage, Interkontinentalraketen abzufangen?
Zumal ein russischer Gegenschlag im Falle des Falles wohl eher
über den Nordpol und von See her erfolgen
würde …
Nassauer: Theoretisch relevant für das Abfangen
eines russischen Zweitschlags könnte vor allem das System in
Polen werden. Von dort aus könnten die potentiellen Flugbahnen
von einigen russischen Interkontinentalraketen vielleicht erreicht
werden, aber meines Wissens nicht mit der von Präsident Obama
zuletzt geplanten, abgespeckten Version des Systems. Dazu wäre
eine leistungsfähigere Abfangrakete nötig, die
derzeit nicht vorgesehen ist. Was die Administration Trump vorhat, ist
derzeit noch unklar. Die Republikaner spielen ja wieder
verstärkt mit Ronald Reagans Idee einer Raketenabwehr aus dem
Weltraum. Trotzdem, auch hier zeigt sich eine Nebenwirkung der
US-Gedankenspiele mit Erstschlagsideen. Schon die Planung des Systems
in Polen führt zu russischen Gegenreaktionen, die wieder
westliche Gegenreaktionen herrufen dürften: Wenn Russland
nuklearfähige Iskander-Raketen im Kaliningrader Gebiet
stationiert, um das Raketenabwehrsystem in Polen bei Bedarf binnen
kürzester Zeit ausschalten zu können, wird das auf
westlicher Seite die nächsten Forderungen nach neuen
Fähigkeiten nach sich ziehen – und schon wird eine
Eskalationsspirale in Gang gesetzt.
Befürchtungen
sind immer etwas Subjektives, dem man mit rationalen Argumenten nur
bedingt beikommt. Moskau hätte aber immer die
Möglichkeit, die landgestützen Komponenten seiner
Zweitschlagskapazität auf ein weitgehend automatisiertes
Launch-on-warning- oder Launch-under-attack-System umzustellen und
damit jeglichen gegnerischen Erstschlagsüberlegungen den Boden
zu entziehen. Was hielten Sie davon?
Nassauer: Nicht gerade viel. Technische Systeme
können immer versagen. Der Kalte Krieg bietet eine Reihe von
Anschauungsbeispielen, in denen letztlich verantwortungsbewusst
handelnde Menschen oder Glück das Schlimmste verhindert haben.
Was passiert, wenn da ein Computer entscheidet? Haben Sie Lust auf
einen Atomkrieg aus Versehen? Nur weil es einen bisher unentdeckten
Fehler in der Software bei einem Frühwarnsystem oder im
Command-and-Control-Computer gibt?
Bleibt zum Schluss
natürlich noch eine grundlegende Frage: Was wird aus der
atomaren Abrüstung?
Nassauer: Dieses Handlungsfeld ist zwischen den USA und
Russland – die anderen sieben Atommächte sind ja
überhaupt nicht beteiligt – seit Abschluss des New
START-Vertrages, ergo seit 2010, systematisch vernachlässigt
und vergiftet worden. Donald Trump hat Wladimir Putin bislang noch
nicht einmal positiv auf das Angebot geantwortet, den gültigen
New START-Vertrag zunächst bis 2026 zu verlängern.
Dieser sei ja, wie eingangs schon erwähnt, ein „bad
deal“. Schließlich hat Trump auch ein
verräterisches Sprachbild gebraucht: Er hat gesagt, die USA
müssten „Anführer des Rudels“
jener Staaten sein, die Atomwaffen besitzen. Er denkt also selbst bei
diesen Waffen offenbar in den Kategorien des Naturrechts und des Rechts
des Stärkeren.
Das erinnert an
Trumps Frage, die während seines Wahlkampfzeit durch die
Medien ging, wozu man eigentlich Kernwaffen habe, wenn man sie nicht
einsetze …
Nassauer: … und damit meinte er vermutlich
nicht, dass man sie dann ja auch gleich abschaffen könne. Mich
stimmt das alles ziemlich pessimistisch. Wenn die atomare
Abrüstung keine Perspektive hat, wird es auf Dauer noch
schwerer, die weitere Verbreitung atomarer Waffen zu verhindern.
Das
Gespräch führte Wolfgang Schwarz am 26. Juni 2017.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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