Das Blättchen
Nr. 14 / 13. Juli 2017


„Haben Sie Lust auf einen Atomkrieg aus Versehen?“

im Gespräch mit Otfried Nassauer


Die UNO-Generalversammlung hat Ende März mit Verhandlungen über ein vollständiges Verbot von Atomwaffen begonnen. Deutschland nimmt aus Rücksicht auf die USA und die NATO nicht teil. Warum ist das problematisch?

Otfried Nassauer: Weil die Bundesrepublik als nicht-nukleares Mitglied des Atomwaffensperrvertrags (NPT) damit mehrere höchst problematische Signale aussendet. Sie positioniert sich klar auf Seiten der Atomwaffenstaaten, die diesen Prozess boykottieren, und nicht auf Seiten der nicht-nuklearen Staaten, die den Bau und Besitz von Atomwaffen verbieten und völkerrechtlich delegitimieren wollen. Der Vertrag ist ja vor einem halben Jahrhundert als völkerrechtliches Unikum auf Zeit abgeschlossen worden. Nicht alle Mitgliedsstaaten haben die gleichen Rechte und Pflichten. Fünf Staaten, die traditionellen Atommächte, sind gleicher als gleich und dürfen Atomwaffen besitzen, vorübergehend, sind aber zur Abrüstung dieser Waffen verpflichtet. Jetzt tun sie so, als sei der Besitz ein Privileg für alle Ewigkeit. Zweitens verstärkt die Bundesrepublik damit die Befürchtung, dass die Staaten, die an der nuklearen Teilhabe der NATO mitwirken, so etwas wie quasi-nukleare Staaten sind, zumindest aber Staaten, die sich im Zweifel ähnlich wie nukleare Staaten positionieren. Und drittens stellt Deutschland damit ohne Not die Glaubwürdigkeit seiner eigenen atomare Abrüstungsrhetorik in Frage.
Zugeben muss ich aber auch, dass die Bundesregierung sich in einer gewissen Zwickmühle befindet: In der NATO gibt es Mitglieder wie Polen, die Russland gerne selbst mit US-Atomwaffen auf ihrem eigenen Territorium gegenüberstehen würden. Deren Ambitionen will die Bundesregierung offenbar entgegenwirken und verhindern, dass am Status quo gerüttelt oder die Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner in Frage gestellt wird.

Trump hat im Wahlkampf betont, dass er das Atomwaffenpotential der USA stärken will. Aber angekündigt hat er in dieser Phase vieles. Durchsetzen konnte er bisher nur wenig. Also Sturm im Wasserglas?

Nassauer: Nein. Er hat das nach seiner Vereidigung nicht nur wiederholt, sondern erhöht das US-Rüstungsbudget deutlich und stärkt auch die atomaren Modernisierungsvorhaben. Wie weit er in diese Richtung gehen will und wird, werden wir voraussichtlich erst genauer wissen, wenn er nach einem Jahr im Amt dem Kongress den gesetzlich vorgeschriebenen Nuclear Posture Review (NPR) vorlegen muss. Darin muss er beschreiben, wie das US-Nuklearpotential und die Rolle dieser Waffen künftig aussehen sollen.
Sorgen macht mir außerdem, dass die Trump-Administration bereits die Zukunft von zwei atomaren Rüstungskontrollverträge indirekt in Frage stellt hat: Der Präsident hat den New START-Vertrag, der den USA und Russland im Großen und Ganzen gleich starke strategische Atomwaffenpotentiale erlaubt, als „schlechten Deal“ bezeichnet und darüber hinaus hat die neue Administration die Vorwürfe der Obama-Regierung übernommen, Moskau verletze den INF-Vertrag, der beiden Staaten landgestützte Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometer verbietet. Sie hat diese sogar noch verschärft: Russland habe landgestützte Marschflugkörper verbotener Reichweite stationiert, so der Vorwurf. Wirklich nachvollziehbare Beweise für diese Behauptung liegen für die Öffentlichkeit bisher nicht auf dem Tisch.

Der INF-Vertrag beendete 1987 die Ost-West-Krise um die sowjetischen SS-20-Raketen und die Pershing-II-Raketen sowie die bodengestützten Marschflugkörper der USA in Westeuropa. Ist der heute noch von Bedeutung?

Nassauer: Ja, sogar von erheblicher Bedeutung. Es war der erste atomare Abrüstungsvertrag überhaupt. Er wirkte vertrauensbildend und läutete eine Trendwende ein: Mit ihm begann nach Jahrzehnten weitgehend ungezügelten nuklearen Wettrüstens eine lange Phase atomarer Abrüstung. Beide Supermächte besaßen damals etliche Zehntausend nuklearer Waffen, heute haben sie nur noch einige Tausend. Gerade Europa hat davon profitiert. Im Vergleich zu damals ist die Sicherheitspolitik in Europa sogar weitgehend entnuklearisiert worden. Hier lagern heute nicht mehr 5.000 taktische US-Atomwaffen, sondern nur noch 150-200, wenn man die Türkei mitzählt. Damals gab es ernst zu nehmende Befürchtungen, die Supermächte könnten versuchen, einen atomaren Krieg auf Europa zu begrenzen. Diese Angst spielte danach lange kaum noch eine Rolle, weil die verbliebenen Atomwaffen praktisch keinen militärischen Nutzen mehr hatten. Eine Rückkehr zu einer Situation, in der Atomwaffen nicht nur als politische Waffen betrachtet werden, ist keinesfalls wünschenswert. Genauso wenig wie ein Ausstieg aus der atomaren Abrüstung und Rüstungskontrolle.

Was wären die Folgen, sollte der Vertrag aufgekündigt werden?

Nassauer: Würde der INF-Vertrag gekündigt, so wäre damit zu rechnen, dass die vertraglich vereinbarte, atomare Rüstungskontrolle deutlich an Gewicht verliert und es wäre möglicherweise der Startschuss für eine neue Trendwende, hinein in einen neuen nuklearen Aufrüstungswettlauf, Europa eingeschlossen. Seit 2010 und mehr noch seit der Krise um die Ukraine und die Krim 2014 werden die Stimmen, die den atomaren Waffen in Europa wieder mehr Gewicht geben wollen, ja vernehmbar lauter. Nicht zuletzt auch in Deutschland.
Trump hat die NATO als „obsolet“ bezeichnet und wiederholt durchblicken lassen, dass nur noch die Bündnispartner mit dem Schutz der USA rechnen können, die genug zahlen. Und zwar mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes.

Welche Reaktionen hat das in Europa hervorgerufen?

Nassauer: Vor allem große Verunsicherung und Unsicherheit. Viele europäische Politiker aus NATO-Staaten haben sich bemüht, die US-Administration zu einem öffentlichen Bekenntnis zu ihren traditionellen Bündnisverpflichtungen zu bewegen. Bei der Münchener Sicherheitskonferenz konnte man das gut beobachten. Andere, wie der CDU-Politiker Kiesewetter oder der polnische Nationalkonservative Kaczynski schienen es für klug zu halten, die US-Administration darauf aufmerksam zu machen, welche Debatten über eine westeuropäische Atommacht oder gar deutsche Atomwaffen ausbrechen könnten, wenn die Nukleargarantie der USA wegfallen würde.

Der polnische PiS-Führer Jaroslaw Kaczynski wünscht sich Europa als „atomare Supermacht“. Sind westeuropäische Atomwaffen eine mögliche Antwort auf die transatlantische Reserviertheit der neuen US-Regierung?

Nassauer: Theoretisch ja, praktisch nein. Ich glaube nicht, dass Kwaczynski das wirklich wünscht. Er hat im gleichen Atemzug gesagt, ein europäisches Atompotential müsse dann stark genug sein, um mit Russland mitzuhalten. Das ist aber völlig unrealistisch. Die Briten und Franzosen haben zusammen rund 550 Atomwaffen, einen Bruchteil dessen, was die USA oder Russland noch besitzen. Woher sollen die Westeuropäer denn die Ressourcen für ein vergleichbares Nuklearpotential nehmen? Ganz zu schweigen von dem politischen Willen. Angesichts des bevorstehenden BREXITs dürften die Zweifel an der Umsetzbarkeit der Idee einer westeuropäischen Atommacht eher noch wachsen.

Was halten Sie von einer wie auch immer gearteten Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der Force de Frappe? Finanziell und/oder logistisch?

Nassauer: Frankreich hat wiederholt mit der Idee geliebäugelt, Deutschland unter den französischen Atomschirm schlüpfen zu lassen. Wahrscheinlich auch in der Hoffnung auf eine Kofinanzierung. Für Deutschland war das bislang nicht attraktiv, weil es seine Interessen in der NATO besser gewahrt sieht. Dort ist es in die nukleare Planung einbezogen und glaubt, über die sogenannte nukleare Teilhabe – vor allem durch die Bereitstellung von Tornado-Jagdbombern als Trägersysteme für die noch hier gelagerten US-Atombomben – hinreichend mitreden zu können. Ob das bei einer Zusammenarbeit mit Paris auch gegeben wäre, bezweifeln viele. Und die Mitsprachemöglichkeiten in der NATO will man ja auch nicht aufgeben.

Welche Rolle spielt das britische Nukleararsenal?

Nassauer: Das britische Nuklearpotential ist technisch von der Zusammenarbeit mit Washington abhängig. Das Grunddesign der Sprengköpfe kommt aus den USA, Teile der U-Boot-Technik auch. Die Trägerraketen für die Atomsprengköpfe sind gar von Washington geleast. Für eine wirklich unabhängige westeuropäische Atommacht sind das keine guten Voraussetzungen. Der britische Beitrag wäre immer ein Beitrag von Washingtons Gnaden. Technisch ist London bei Nuklearwaffen eher so etwas wie eine Kolonie Washingtons, die gewisse Autonomierechte genießt.

Nun gibt es ja hierzulande auch Stimmen, die sagen, Deutschland solle atomar rüsten …

Nassauer: Wie bitte? Deutsche Atomwaffen? Der Verzicht auf atomare, chemische und biologische Waffen im 2+4-Vertrag war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die deutsche Einheit akzeptiert haben – gerade auch die europäischen Siegermächte. Außerdem ist Deutschland nichtnukleares Mitglied des Atomwaffensperrvertrags. Wer nach einer deutschen Atomwaffe ruft, kennt entweder die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nicht oder meint, die Bundesrepublik könne da mir nichts, dir nichts und ohne großen Schaden aussteigen. Würde Deutschland das aber tun, bräche das globale Nichtverbreitungssystem in Gestalt des NPT-Vertrages und der Nuclear Suppliers Group vermutlich ziemlich schnell zusammen.
Dass Deutschland nicht selbst über Atomwaffen verfügt, ist eine sicherheitspolitisch kluge, freiwillige Selbstbeschränkung, die nicht zuletzt dazu beiträgt, dass unsere europäischen Nachbarn etwas besser mit dem wirtschaftlichen Übergewicht Deutschlands in Europa leben können.

Zusatzfrage: Wer deutsche Atomwaffen fordert, macht die Rechnung mit oder ohne Frankreich und Großbritannien?

Nassauer: Wer deutsche Atomwaffen fordert, vertritt einen nationalistischen, anti-europäischen und anti-amerikanischen Standpunkt. Diese Forderung läuft darauf hinaus, bei möglichst vielen Menschen in Europa Ängste vor einem wirtschaftlich und militärisch völlig dominanten Deutschland hervorzurufen. Das gilt natürlich auch in Frankreich und vor allem in Großbritannien. Übrigens: Würde Deutschland – wie von Donald Trump gefordert – zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für sein Militär ausgeben, hätte das eine ähnliche Wirkung. Die Briten und die Franzosen müssten sich dann entscheiden, ob sie ihren Staat finanziell ruinieren oder mit einem auch militärisch dominanten Deutschland leben wollen.

Was würde eine nukleare Selbstermächtigung EU-Europas, nicht zuletzt Deutschlands, für das Verhältnis zu Russland bedeuten?

Nassauer: Nichts Gutes. Sowohl nukleare Abschreckung als auch nukleare Abrüstung sind leichter zu denken und zu verhandeln, wenn es möglichst wenig beteiligte Akteure gibt. Je mehr Akteure, desto komplizierter wird es. Das zeigt sich schon am Beispiel der NATO- und EU-Erweiterungen. Die NATO kann sich seit Jahren nicht einigen, unter welchen Bedingungen oder bei welchen Verhandlungsergebnissen mit Russland sogenannte taktische, also nicht-strategische Atomwaffen in Europa verzichtbar wären. Schlicht, weil es keinen Konsens gibt und einige NATO-Mitglieder lieber mehr als weniger dieser Waffen auf europäischem NATO-Gebiet hätten. Was sollte da bei einer europäischen Nuklearmacht besser werden?
Das russische Bruttoinlandsprodukt lag übrigens 2015 bei rund 40 Prozent des deutschen und ist stark von den Öl- und Gaspreisen abhängig. Bei Russland kann man gut beobachten, wie stark ein großes Nuklearpotential einen Staat und dessen Wirtschaft auch belasten kann.

Es sind ja nach wie vor US-Kernwaffen auf deutschem Boden stationiert, um genau zu sein: auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz, was die Frage aufwirft, wie sich diese nukleare Teilhabe in mögliche atomare Optionen Deutschlands einordnet?

Nassauer: In Büchel lagern heute noch bis zu 20 Atombomben der Typen B61-3 und B61-4. Die kleinere B61-4 hat die vierfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Diese Waffen werden von US-Soldaten bewacht und gewartet. Eingesetzt werden können sie nur, wenn der US-Präsident sie freigibt. Deutsche Tornado-Flugzeuge mit deutschen Besatzungen würden den von NATO-Stäben geplanten Einsatz im Ernstfall durchführen. Das ist der technische Teil der nuklearen Teilhabe. Und es ist das von der deutschen Politik seit Jahrzehnten bevorzugte Modell nuklearer Beteiligung und Mitsprache. Eine Abkehr von dieser Prioritätensetzung sehe ich nicht. Im Gegenteil: Die deutsche Luftwaffe informiert sich über den künftigen Nuklearwaffenträger der USA, den F-35-Jet, weil sie über einen Nachfolger für den Tornado nachdenkt. Das bedeutet doch auch, dass die Luftwaffe gerne bis über das Jahr 2050 hinaus an der nuklearen Teilhabe festhalten würde.

Ich wüsste übrigens nicht, dass die Luftwaffe sich in Paris auch schon nach einer nuklearfähigen Rafale erkundigt hätte.
Die B61-Modelle gelten als militärisch überaltert. Was geschieht mit diesem Potenzial in den nächsten Jahren?

Nassauer: Die USA entwickeln derzeit eine modernisierte, deutlich zielgenauere, weil lenkbare und militärisch nutzbarere Version der B61, die auch als Ersatz für die in Büchel gelagerten B61 gedacht ist. Die Stationierung der B61-12 soll Anfang des nächsten Jahrzehntes beginnen. Gleichzeitig arbeiten die USA an der Integration der neuen Bombe in den Tornado und in andere Flugzeuge.

Wie ist die Bundesrepublik dabei finanziell engagiert?

Nassauer: Deutschland muss den Tornado einsatzbereit halten, um die Flugzeuge bis 2035 nutzen zu können. Die Luftwaffe würde sich vielleicht gerne auch schon früher ein Nachfolgeflugzeug zulegen, um von der derzeitigen Steigerung der Rüstungsausgaben zu profitieren. Mit der NATO-Daueraufgabe „Nukleare Teilhabe“ kann man ja die Existenz eines ganzen zusätzlichen Geschwaders begründen. Auch daher rührt das aktuelle Interesse an der amerikanischen F-35.
Außerdem trägt Deutschland die Kosten für den Standort Büchel und die deutschen Soldaten dort. Der Fliegerhorst soll für eine dreistellige Millionensumme modernisiert werden. Hinzu kommt ein Kostenanteil an dem NATO-Programm für die nuklearen Lagerstätten in Europa. Schließlich bleibt abzuwarten, ob die Integration der neuen Bombe von Deutschland zu finanzierende technische Änderungen am Tornado erfordert.

Die Tornado-Kampfbomber haben aber von Büchel aus keine ausreichende Reichweite, um wirklich relevante Ziele in Russland zu erreichen. Was soll das Ganze militärisch überhaupt?

Nassauer: Die Tatsache, dass die Atomwaffen in Büchel, Kleine Brogel (Belgien) oder Volkel (Niederlande) von ihren Standorten aus nach dem Ende des Kalten Krieges keinen klar erkennbaren militärischen Zweck mehr erfüllen konnten, unterstrich deren primär politische Rolle im Instrumentarium der Abschreckung. Sie waren da als Symbol des US-Nuklearschirms, hätten aber erst nach vorne verlagert werden müssen, um wieder militärisch relevante Ziele bedrohen zu können.

Wie sähe es anstelle des Tornado mit amerikanischen F-35 aus?

Nassauer: Mit der F-35 würde sich bei gleichen Standorten daran nichts grundlegend ändern. Was sich verändert ist, dass dieses volldigitalisierte Flugzeug die digitalisierten Bomben des Typs B61-12 noch zielgenauer einsetzen kann als der Tornado.

Ist die nukleare Teilhabe nicht ein Verstoß gegen den von Deutschland ratifizierten Atomwaffensperrvertrag?

Nassauer: Ja und nein – je nach Sichtweise. Die NATO sagt, dass die USA vor dem Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrags durch einen Brief des US-Außenministers kundgetan habe, dass sie die Teilhabe als vertragskonform betrachten werde. Dieser Brief war aber vielen Ländern nicht bekannt, als sie den Vertrag unterzeichneten. Seither wird durch die nukleare Teilhabe eine Gruppe von Ländern geschaffen, die es dem Vertragstext nach eigentlich nicht gibt – nicht-nukleare Vertragsmitglieder, die die Atomwaffen eines nuklearen Staates im Auftrag ihres Militärbündnisses, der NATO, einsetzen können. Also quasi-nukleare Staaten. Viele Kritiker halten das – und meines Erachtens zu recht – für eine Verletzung des Vertrags.

2009 stand im Koalitionsvertrag der damaligen CDU/CSU-FDP-Regierung, man wolle die Amerikaner zum Abzug der in Deutschland dislozierten Nuklearsysteme bewegen. Warum ist das nicht geschehen?

Nassauer: Ganz einfach: Die CDU hatte zwar zugestimmt, den Punkt in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, weil dieser sonst wohl nicht zustande gekommen wäre. Der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle war dabei die treibende Kraft. Kurz darauf hat das Kanzleramt aber die Berliner US-Botschaft in Kenntnis gesetzt, die Kanzlerin nehme die betreffende Passage nicht ernst. Herrn Westerwelle hat man dann am ausgestreckten Arm verhungern lassen.

Obamas Nuclear Posture Review aus dem Jahr 2010 fußte auf einem innenpolitischen Deal in Amerika: Die Republikaner ließen den New START-Vertrag im Senat passieren und im Gegenzug legte Obama ein umfassendes Modernisierungsprogramm für die gesamte nukleare Triade der USA aus land-, see- und luftgestützten Trägersystemen samt zugehörigen Sprengköpfen auf. Was wird aus diesem Deal unter der Trump-Administration?

Nassauer: Das ist noch schwer vorherzusagen. Sicher ist nur: Donald Trump will mehr Geld fürs Militär ausgeben, und es bleibt vorläufig bei der umfassenden nuklearen Modernisierungsplanung Obamas. Trump muss, wie erwähnt, im nächsten Jahr dem Kongress auch einen NPR vorlegen. Der wird stark beeinflussen, ob und was die NATO auf ihrem Gipfel 2018 zum Thema Nuklearwaffen beschließt: Werden die Atombomben in Europa eins zu eins ausgetauscht? Steigt deren Zahl, kommen neue Standorte hinzu? Bleibt es dabei, dass keine Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten der NATO stationiert werden? Das hatte man Russland ja in der NATO-Russland-Grundlagenakte 1997 politisch verbindlich zugesagt. Oder bricht man diese Zusage unter Verweis auf die Tatsache, dass die Zusage nur unter den damaligen und vorhersehbaren Umständen galt? Kommt es erneut zu einer Diskussion über die Möglichkeit eines auf Europa begrenzbaren Atomkriegs?

Fachleute prognostizieren unter anderem im Zusammenhang mit der erhöhten Treffsicherheit künftiger Trägersysteme und Sprengköpfe ein Anwachsen nuklearer Kriegsgefahr? Teilen Sie diese Auffassung?

Nassauer: Wenn die verfügbaren Atomwaffen künftig weniger Sprengkraft haben und aufgrund ihrer gesteigerten Zielgenauigkeit trotzdem eine größere Zerstörungswahrscheinlichkeit für die Ziele erreichen können und zugleich weniger ungewollte Kollateralschäden hervorzurufen versprechen, dann sinkt die Hemmschwelle, sie einzusetzen. Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie als effektives Mittel der Kriegführung betrachtet und deshalb auch wieder entsprechende Einsatzplanungen entwickelt werden. Die Verlockung, von einem entwaffnenden Erstschlag gegen die andere Seite zu träumen, könnte erneut eine Rolle spielen. Das System nukleare Abschreckung würde also in mehrfacher Hinsicht labiler. Insofern wird zu recht ein Anstieg der nuklearen Kriegsgefahr befürchtet – was besonders ins Gewicht fällt, wenn politische Führer die Kontrolle über nukleare Potentiale haben, die keine Garantie dafür bieten, sich jederzeit rational zu entscheiden und vor allem sich jederzeit daran zu erinnern, dass Atomwaffen nur solange abschreckend wirken, wie sie nicht eingesetzt werden.
Als nukleare Erstschlagsfähigkeit wird das Vermögen einer Atommacht definiert, einen nuklearen Gegner durch einen Überraschungsangriff soweit atomar zu entwaffnen, dass ihm – gegebenenfalls in Kombination mit Raketenabwehrsystemen – ein vernichtender Gegenschlag verwehrt würde. Dann würde das grundlegende Axiom der gegenseitigen nuklearen Abschreckung – „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.“ – nicht mehr gelten. Das impliziert (allerdings unter Ausklammerung aller klimatischen, biologischen und sonstigen Kollateralschäden massenhaften Kernwaffeneinsatzes) die Vorstellung vom möglichen Sieg im Atomkrieg.

Strategische Sandkastenspiele in dieser Richtung hat es insbesondere in den USA immer wieder gegeben. Halten Sie eine Renaissance dieser Denkart für möglich?

Nassauer: Richtig, gegeben hat es diese Gedankenspiele immer wieder einmal, aber vor allem bei spieltheoretisch orientierten Strategiedenkern, die selbst keine Entscheidung über einen Atomwaffeneinsatz hätten treffen müssen. Es gibt sie auch heute noch, weil sich in solchen Überlegungen noch immer der Traum von der Unverwundbarkeit Amerikas spiegelt. In Russland haben solche Gedankenspiele aber dazu geführt, dass der Erhalt einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit auch gegen eine Kombination aus modernsten nuklearen und konventionellen Angriffswaffen sowie einer US-Raketenabwehr, die Moskaus Waffen für den Zweitschlag abfangen sollen, zu einer strategischen Fixierung geworden ist. Genau da liegt aber auch eine große Gefahr: Diese Art zu denken, be- und verhindert Abrüstungsschritte, die sonst vielleicht möglich wären.

Russland hat „Erstschlags“-Befürchtungen in Richtung USA wiederholt geäußert – vor allem im Zusammenhang mit der Einführung neu entwickelter Raketenabwehrsysteme durch Washington und deren Stationierung nahe russischer Grenzen, bisher in Rumänien und im Mittelmeer, künftig auch in Polen. Sind diese Systeme technisch überhaupt in der Lage, Interkontinentalraketen abzufangen? Zumal ein russischer Gegenschlag im Falle des Falles wohl eher über den Nordpol und von See her erfolgen würde …

Nassauer: Theoretisch relevant für das Abfangen eines russischen Zweitschlags könnte vor allem das System in Polen werden. Von dort aus könnten die potentiellen Flugbahnen von einigen russischen Interkontinentalraketen vielleicht erreicht werden, aber meines Wissens nicht mit der von Präsident Obama zuletzt geplanten, abgespeckten Version des Systems. Dazu wäre eine leistungsfähigere Abfangrakete nötig, die derzeit nicht vorgesehen ist. Was die Administration Trump vorhat, ist derzeit noch unklar. Die Republikaner spielen ja wieder verstärkt mit Ronald Reagans Idee einer Raketenabwehr aus dem Weltraum. Trotzdem, auch hier zeigt sich eine Nebenwirkung der US-Gedankenspiele mit Erstschlagsideen. Schon die Planung des Systems in Polen führt zu russischen Gegenreaktionen, die wieder westliche Gegenreaktionen herrufen dürften: Wenn Russland nuklearfähige Iskander-Raketen im Kaliningrader Gebiet stationiert, um das Raketenabwehrsystem in Polen bei Bedarf binnen kürzester Zeit ausschalten zu können, wird das auf westlicher Seite die nächsten Forderungen nach neuen Fähigkeiten nach sich ziehen – und schon wird eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt.

Befürchtungen sind immer etwas Subjektives, dem man mit rationalen Argumenten nur bedingt beikommt. Moskau hätte aber immer die Möglichkeit, die landgestützen Komponenten seiner Zweitschlagskapazität auf ein weitgehend automatisiertes Launch-on-warning- oder Launch-under-attack-System umzustellen und damit jeglichen gegnerischen Erstschlagsüberlegungen den Boden zu entziehen. Was hielten Sie davon?

Nassauer: Nicht gerade viel. Technische Systeme können immer versagen. Der Kalte Krieg bietet eine Reihe von Anschauungsbeispielen, in denen letztlich verantwortungsbewusst handelnde Menschen oder Glück das Schlimmste verhindert haben. Was passiert, wenn da ein Computer entscheidet? Haben Sie Lust auf einen Atomkrieg aus Versehen? Nur weil es einen bisher unentdeckten Fehler in der Software bei einem Frühwarnsystem oder im Command-and-Control-Computer gibt?

Bleibt zum Schluss natürlich noch eine grundlegende Frage: Was wird aus der atomaren Abrüstung?

Nassauer: Dieses Handlungsfeld ist zwischen den USA und Russland – die anderen sieben Atommächte sind ja überhaupt nicht beteiligt – seit Abschluss des New START-Vertrages, ergo seit 2010, systematisch vernachlässigt und vergiftet worden. Donald Trump hat Wladimir Putin bislang noch nicht einmal positiv auf das Angebot geantwortet, den gültigen New START-Vertrag zunächst bis 2026 zu verlängern. Dieser sei ja, wie eingangs schon erwähnt, ein „bad deal“. Schließlich hat Trump auch ein verräterisches Sprachbild gebraucht: Er hat gesagt, die USA müssten „Anführer des Rudels“ jener Staaten sein, die Atomwaffen besitzen. Er denkt also selbst bei diesen Waffen offenbar in den Kategorien des Naturrechts und des Rechts des Stärkeren.

Das erinnert an Trumps Frage, die während seines Wahlkampfzeit durch die Medien ging, wozu man eigentlich Kernwaffen habe, wenn man sie nicht einsetze …

Nassauer: … und damit meinte er vermutlich nicht, dass man sie dann ja auch gleich abschaffen könne. Mich stimmt das alles ziemlich pessimistisch. Wenn die atomare Abrüstung keine Perspektive hat, wird es auf Dauer noch schwerer, die weitere Verbreitung atomarer Waffen zu verhindern.

Das Gespräch führte Wolfgang Schwarz am 26. Juni 2017.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS