Das Blättchen
Nr. 4 / 10. Februar 2014


Raketentests gegen den INF-Vertrag
Vertragsverletzung oder Vertragsverhinderung?

von Otfried Nassauer


In Washington wurde die nächste Runde der Schlacht um die Zukunft der atomaren Abrüstung eingeläutet: Kritiker der nuklearen Rüstungskontrolle lancieren den Vorwurf, Moskau verletze den INF-Vertrag. Der verbiete es, landgestützte Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu testen. Genau das aber praktiziere Russland. Die Behauptung ist Mittel zum Zweck. Sie soll weitere Abrüstungsvereinbarungen erschweren.

Was in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres vor allem auf Webseiten wie buzzfeed, Daily Beast oder Blogs konservativer journalistischer Schlachtrösser wie Bill Gertz kolportiert wurde, erreicht jetzt die großen Medien wie die New York Times. Der Vorwurf: Russland testet landgestützte Mittelstreckenraketen. Das sei Vertragsbruch, denn der INF-Vertrag verbiete es. Die meisten Quellen: ungenannte republikanische Kongress- sowie Geheimdienst- und Militärmitarbeiter. Zur Erinnerung: Der INF-Vertrag beendete 1987 die Auseinandersetzung um die atomaren Mittelstreckenraketen in Europa, um sowjetische SS-20 und amerikanische Pershing II sowie landgestützte Marschflugkörper. Beide Seiten verpflichteten sich, ihre landgestützten Atomwaffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu eliminieren und keine solchen Waffen mehr zu entwickeln, zu testen und zu stationieren. Es war der erste substantielle Abrüstungsvertrag des Kalten Krieges. Knapp 2.700 nukleare Trägersysteme mussten in Ost und West zerstört werden.

Rose Gottemoeller, Präsident Obamas Spitzenbeamtin für Rüstungskontrolle, habe die NATO-Verbündeten am 17. Januar 2014 über eine mögliche Vertragsverletzung Moskaus informiert – so war in der New York Times Ende letzten Monats zu lesen. Wächst da eine weitere Belastung für das Verhältnis zwischen dem Westen und Moskau heran? Oder gar eine neue nukleare Bedrohung für Europa? Soll da wieder einmal ein substantielles Hindernis für weitere Abrüstungsverhandlungen mit Moskau aufgebaut werden? Zumindest letzteres könnte ganz in der Absicht derer liegen, die diese Meldungen lancieren. Mit Vertragsbrüchigen schließt man nämlich keine neuen Verträge. Schon gar nicht, wenn man Rüstungskontrollverträge ablehnt oder grundsätzlich kritisch betrachtet.

Nur zwischen den Zeilen ist zu erkennen, dass Obama und Gottemoeller Vorsicht walten ließen. Die Kritiker werfen ihnen nämlich vor, dass sie die russische Vertragsverletzung nicht beim Namen nannten, sondern den neuen NATO-Ausschuss für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung nur darüber unterrichtet haben, dass es sein könne, dass Russland den INF-Vertrag verletze oder künftig verletzen werde.

Was die Kritiker als Urteilsschwäche der US-Administration werten, ist wahrscheinlich gesunde Vorsicht und Skepsis angesichts nicht ganz so schlüssiger Aufklärungsergebnisse. Die US-Regierung will sich nicht zu Vorwürfen hinreißen lassen, die sie nicht belegen kann.


Von variablen und vagen Fakten

Ein Blick auf die materielle Substanz der Vorwürfe zeigt: Vorsicht könnte durchaus geboten sein. Zunächst konzentrierten sich die Spekulationen auf Testflüge einer neuen ballistischen Rakete mit der Bezeichnung RS-24 Yars M. Sie soll mehrere Sprengköpfe tragen und sei im Juni 2013 über eine Reichweite von nur gut 2.000 Kilometern getestet worden – von Kapustin Yar nach Sary Shagan. Das wäre nur ein Verstoß gegen den INF-Vertrag, wenn auch die maximale Reichweite des Flugkörpers unter 5.500 Kilometer läge. Bald stellte sich heraus: Schon ein Jahr zuvor wurde offenbar eine Rakete gleichen Typs getestet – von Plesetsk im nordwestlichen Russland nach Kura auf Kamtschatka. Das sind aber 5.800 Kilometer. Damit gilt dieser Raketentyp als Interkontinentalrakete und fällt unter den New START-Vertrag. Dafür spricht auch die Bezeichnung RS-24 Yars M. Bei Flugkörpern, die als RS-24 bezeichnet werden, handelt es sich in der Regel um Varianten der bekannten SS-27 Topol M. Mehr noch: Auch Interkontinentalraketen können natürlich über geringere als ihre maximale Reichweite eingesetzt werden. Das wäre nicht ungewöhnlich. Testschüsse von Kapustin Yar nach Sary-Shagan werden von Moskaus Militär gewöhnlich durchgeführt, um herauszufinden, ob eine Waffe Raketenabwehrsystemen ausweichen kann.

Kaum war der erste Verdacht einer Vertragsverletzung gekontert, brachte Bill Gertz, ein Journalist der erzkonservativen Washington Times, in seinem Blog die nächste Variante ins Spiel: Russland habe im Juni 2013 eine ganz andere verdächtige Rakete getestet, die RS-26. Auch sie werde Mehrfachsprengköpfe tragen und solle Raketenabwehrsysteme in Europa unterlaufen. Möglicherweise habe dieser Flugkörper nur zwei Antriebsstufen und somit eine kürzere Reichweite, so wurde spekuliert. Möglich sei auch, dass es sich um eine Ableitung aus der seegestützen Rakete Bulava handele. Bekannt sei doch ohnehin, dass viele russische Politiker und Militärs den INF-Vertrag gerne aufkündigen würden. Der New START-Vertrag lasse es zu, genau zu hinterfragen, ob eine der Vertragsparteien neue Raketen entwickle. Dafür sei es jetzt an der Zeit.

Auch diese Spekulation blieb fragwürdig. Das russische Militär hat 2012 und 2013 vier erfolgreiche Tests mit Raketen großer Reichweite durchgeführt. Die RS-26, so die russische Auskunft, sei eine kleinere, leichtere, mobilere Interkontinentalrakete. Auch diese Waffe sei bereits über mehr als 5.500 Kilometer von Plesetsk nach Kura getestet worden,. Das National Air and Space Intelligence Center der US-Luftwaffe (NASIC) hat die RS-26 in seinem jüngsten Bericht über ausländische Flugkörper (2013) als strategische Waffe mit einer Reichweite von mehr als 5.500 Kilometern eingestuft. Würde es sich um eine Variante der Bulawa handeln, so würde die Reichweite der seegestützten Version von rund 8.000 Kilometern dafür sprechen, dass es sich ebenfalls um eine strategische Rakete handeln muss.

Mittlerweile ist eine dritte Version aufgetaucht, die den Verdacht einer Verletzung des INF-Vertrages durch Moskau stützen soll. Nun ist nicht mehr von einer ballistischen Rakete die Rede, sondern von einem landgestützten Marschflugkörper. So zum Beispiel Ende Januar die New York Times. Das NASIC listete 2013 für Russland keine entsprechende Waffe als in Entwicklung oder vor der Stationierung befindlich. Auch passt ein Marschflugkörper kaum zu den Beobachtungen über die Raketentests, über die 2012 und 2013 berichtet wurden. Allerdings gab es 2007 Berichte, Russland habe einen Test mit einem bodengestützten Marschflugkörper als potentielle Bewaffnung des Raketensystems Iskander durchgeführt. Die Angaben zu dessen Reichweite variierten damals stark. Teils war von Hunderten, teils von Tausenden von Kilometern die Rede. Für den für das Iskander-K-System entwickelten Marschflugkörper R-500, der damals verdächtigt wurde, werden heute zumeist Reichweiten unter 300 Kilometern angegeben. Aktuelle Meldungen über einen bodengestützten russischen Marschflugkörper mit 1.000, 2.000 oder gar mehr als 2.500 Kilometern sind bisher nicht bekannt geworden.

Da die Primär-Quellen für die Behauptung einer Vertragsverletzung bislang ungenannt blieben, sind nur Nachfragen bei republikanischen Abgeordneten möglich, die von der US-Regierung über die vorliegenden Aufklärungsergebnisse informiert wurden. Sie vertreten die Auffassung, die Administration sei den Vorwürfen bislang nur unzureichend nachgegangen und habe den Kongress nicht ausreichend informiert. Das ist verständlich für Oppositionsabgeordnete, die der nuklearen Abrüstung skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen und versuchen, politisches Kapital aus einer Kontroverse wie dieser herauszuschlagen.


Das Moskauer Dilemma

Ganz unschuldig ist Moskau an den wilden Spekulationen in Washington ganz sicher nicht. Gekonnt wie zu Zeiten des Kalten Krieges verwirren russische Militärs und Politiker die Öffentlichkeit mit unterschiedlichen Angaben über die Entwicklung und den Bau neuer Interkontinentalraketen. Selbst Experten blicken inzwischen verwirrt auf die Vielzahl der Bezeichnungen neuer Typen: Yars M, RS-24, RS-26, KY-26, Rubesch, Avantgard, Sarmat – das alles sollen neue landgestützte Raketentypen großer Reichweite sein, die künftig die Interkontinentalraketen aus dem Kalten Krieg ablösen und die nukleare Zweitschlagfähigkeit Moskaus garantieren sollen.

Druck auf Russland, seine Interkontinentalraketen zu modernisieren, entstand durch drei Faktoren. Erstens erreichen die bislang vorhandenen Interkontinentalraketen in rascher Folge und in großer Zahl das Ende ihrer technischen Lebensdauer. Modernisieren kann man sie oft nicht mehr, weil die Industriebetriebe, die sie früher hergestellt haben, seit dem Zerfall der UdSSR oft im Ausland liegen und zum Teil gar nicht mehr existieren. Zweitens konnte Russland in den vergangenen 20 Jahren nur vergleichsweise wenig Geld in die Modernisierung seiner Raketen investieren und musste sich aufgrund der verbliebenen industriellen Infrastruktur auf den Bau leichter Interkontinentalraketen beschränken. Drittens gelang es Russland bis zuletzt in den Abrüstungsverhandlungen mit Washington nicht, die USA vertraglich auf möglichst niedrige Obergrenzen für Zahl strategischer Trägersysteme festzulegen. Der New START-Vertrag erlaubt den USA und Russland am Ende seiner Laufzeit noch immer 700 aktive und 100 weitere, inaktive Trägersysteme. Russland verfügt schon heute nur noch über 473 derartige Systeme, 293 davon sind landgestützte Interkontinentalraketen, von denen viele in den nächsten Jahren ersetzt werden müssen. Mehrere unterschiedliche Typen sind betroffen, deshalb sollen auch mehrere neue Typen eingeführt werden.

Realistisch ist anzunehmen, dass Moskau in den nächsten 10-15 Jahren maximal drei Typen neuer Interkontinentalraketen in Dienst stellt: zwei leichtere mit Festtreibstoff und eine schwere Rakete mit Flüssigtreibstoff.

Die angelaufene Modernisierung der russischen Raketenbestände – zu Land und auch zur See – ist aus Moskauer Sicht nicht zuletzt Folge der unbefriedigenden Rüstungskontrollvereinbarungen mit Washington. Diese wiederum haben eine Ursache in den engen Vorgaben für die Rüstungskontrolle, die der Kongress Präsident Obama seit seinem Amtsantritt gemacht hat und an die dieser sich hält.


Obamas Rüstungskontrollgegner

Es begann bereits mit dem National Defense Authorization Act 2010, dem Verteidigungshaushaltsgesetz, und damit vor den Verhandlungen über das New START-Abkommen. Der US-Administration wurde mit diesem Gesetz vom Kongress vorgegeben, keine vertraglichen Verpflichtungen einzugehen, die den Aufbau von Raketenabwehrsystemen, Weltraumwaffen und vor allem die Entwicklung und Stationierung konventionell bestückter Langstreckenwaffen eingeschränkt hätten. Das bewegte Obamas Unterhändler zu einem konservativen Verhandlungsansatz hinsichtlich der Zahl strategischer Trägersysteme. Denn Interkontinentalraketen und seegestützte ballistische Raketen eignen sich inzwischen auch, um konventionelle Sprengköpfe ins Ziel zu tragen. Russland dagegen konnte sich hohe Trägerzahlen nicht erlauben und strebte deutlich niedrigere Obergrenzen an. Im russischen Interesse lag es andererseits, mehr Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen zuzulassen, weil es seine Zweitschlagfähigkeit auf diesem Weg kostengünstiger aufrechterhalten konnte. Schließlich akzeptierte Moskau eine höhere Zahl erlaubter Träger, Washington zusätzliche Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Mit vereinten Kräften reduzierten die Vertragsparteien so die Tragweite ihrer neuen Abrüstungsvereinbarung.

Kaum war der Vertrag unter Dach und Fach, beschloss der Kongress mit seinem nächsten Haushaltsgesetz, der Präsident dürfe die im Vertrag festgelegten Obergrenzen nur noch dann unterschreiten, wenn er dies ausführlich gegenüber dem Parlament begründe und dieser sein Einverständnis signalisiere. Zuvor waren solche Unterschreitungen eine auf beiden Seiten übliche Praxis. Wiederholt erleichterten sie Gespräche über niedrigere Obergrenzen bei Nachfolgeabkommen.
Bald darauf wurde dem Präsidenten aufgegeben, regelmäßig zu berichten, ob Russland Wünsche oder Vorschläge für vertragliche Beschränkungen geäußert habe, die die Raketenabwehrpläne der USA, die Entwicklung von Weltraumwaffen oder künftige Fähigkeiten zu konventionellen Schlägen mit Langstreckenwaffen einschränken könnten. Dahinter stand die Absicht, rechtzeitig gegen entsprechende Verhandlungen vorgehen zu können.

Seit dem Haushaltsgesetz für 2012 verkoppelt der Kongress zudem die nächste Runde nuklear-strategischer Verhandlungen mit Forderungen, auch nicht-strategische, also taktische Atomwaffen in diese einzubeziehen, weil Moskau bei diesen Systemen einen numerischen Vorteil habe. Mehr noch: Während der Kongress Obama einerseits vorgibt, an den eigenen nicht-strategischen Atomwaffen in Europa festzuhalten, fordert er zugleich: Nur eine Abrüstung der Potentiale Russlands und nicht deren Verlagerung weg von den Grenzen der NATO müsse bei solchen Verhandlungen das Ziel sein.
All diese Vorgaben haben ein gemeinsames Ziel: Den Abschluss eines weiteren START-Vertrages in der zweiten Amtszeit Obamas zu behindern, wenn nicht zu verhindern. Neue Hürden werden aufgebaut. Ein gutes Beispiel ist die Forderung, nicht-strategische Atomwaffen in den nächsten START-Vertrag einzubeziehen. Die US-Regierung hat sich auf diese Forderung bereits eingelassen. Um einen solchen Vertrag abschließen zu können, müssten zunächst Regeln zu seiner Überprüfung entwickelt werden. Diese müssten sich erstmals auch auf atomare Sprengköpfe und nicht nur auf die Trägersysteme beziehen. Es gibt dafür bisher kein Vorbild. Um solche Regeln auszuhandeln, braucht man Zeit. Würden sie aufgestellt, so beträfen sie später aber vor allem Russland. Denn die USA planen, ihre letzten nicht-strategischen Nuklearwaffen, die Atombomben der Modelle B61-3 und -4 so zu modernisieren, dass sie sich technisch nicht mehr von strategischen Atombomben unterscheiden. Eine neue Waffe, die B61-12, soll alle strategischen und alle nicht-strategischen Atombomben der USA gleichzeitig ersetzen.

Nachbemerkung: Colin S. Gray war lange ein wichtiger Vordenker konservativer amerikanischer Politik. Er hält Rüstungskontrolle für einen „nichttödlichen Virus, der unausrottbar die Politik befallen“ hat. Rüstungskontrolle müsse fehlschlagen, weil nicht Waffen, sondern Politik über Krieg und Frieden entscheiden, weil Rüstungskontrolle keine Stabilität schaffe, ihre positiven Wirkungen wie theologische Dogmen von der politischen Klasse lediglich geglaubt würden. Rüstungskontrolle führe nur dann zu wirksamen Rüstungsbeschränkungen, wenn die beteiligten Staaten hinreichendes Vertrauen zueinander hätten, also Rüstungsbeschränkungen gar nicht zwingend erforderlich seien. Zwischen verfeindeten Staaten sei effektive Rüstungskontrolle dagegen so gut wie unmöglich. Rüstungskontrolle schade bestenfalls nicht, aber wirklich nützlich sei sie erst recht nicht. Nachzulesen in Gray’s bereits 1992 erschienenem Buch „Das Kartenhaus – Warum Rüstungskontrolle scheitern muss“.

Gray ist Mitarbeiter des National Institute for Public Policy. Dort arbeitet seit vielen Jahren auch der ehemalige Pentagon-Angestellte Mark Schneider. Mark Schneider ist der „Vater“ aller drei „Beispiele“ für die These, Moskau verstoße mit seinen Raketentests gegen den INF-Vertrag.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS