Raketentests gegen den INF-Vertrag
Vertragsverletzung oder Vertragsverhinderung?
von Otfried Nassauer
In
Washington wurde die nächste Runde der Schlacht um die Zukunft der
atomaren Abrüstung eingeläutet: Kritiker der nuklearen
Rüstungskontrolle lancieren den Vorwurf, Moskau verletze den
INF-Vertrag. Der verbiete es, landgestützte Mittelstreckenraketen
mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu testen. Genau
das aber praktiziere Russland. Die Behauptung ist Mittel zum Zweck.
Sie soll weitere Abrüstungsvereinbarungen erschweren.
Was
in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres vor allem auf Webseiten
wie buzzfeed,
Daily Beast
oder Blogs konservativer journalistischer Schlachtrösser wie Bill
Gertz kolportiert wurde, erreicht jetzt die großen Medien wie die
New York Times.
Der Vorwurf: Russland testet landgestützte Mittelstreckenraketen.
Das sei Vertragsbruch, denn der INF-Vertrag verbiete es. Die meisten
Quellen: ungenannte republikanische Kongress- sowie Geheimdienst- und
Militärmitarbeiter. Zur Erinnerung: Der INF-Vertrag beendete 1987
die Auseinandersetzung um die atomaren Mittelstreckenraketen in
Europa, um sowjetische SS-20 und amerikanische Pershing II sowie
landgestützte Marschflugkörper. Beide Seiten verpflichteten sich,
ihre landgestützten Atomwaffen mit Reichweiten zwischen 500 und
5.500 Kilometern zu eliminieren und keine solchen Waffen mehr zu
entwickeln, zu testen und zu stationieren. Es war der erste
substantielle Abrüstungsvertrag des Kalten Krieges. Knapp 2.700
nukleare Trägersysteme mussten in Ost und West zerstört
werden.
Rose Gottemoeller, Präsident Obamas Spitzenbeamtin für
Rüstungskontrolle, habe die NATO-Verbündeten am 17. Januar 2014
über eine mögliche Vertragsverletzung Moskaus informiert – so war
in der New York Times
Ende letzten Monats zu lesen. Wächst da eine weitere Belastung für
das Verhältnis zwischen dem Westen und Moskau heran? Oder gar eine
neue nukleare Bedrohung für Europa? Soll da wieder einmal ein
substantielles Hindernis für weitere Abrüstungsverhandlungen mit
Moskau aufgebaut werden? Zumindest letzteres könnte ganz in der
Absicht derer liegen, die diese Meldungen lancieren. Mit
Vertragsbrüchigen schließt man nämlich keine neuen Verträge.
Schon gar nicht, wenn man Rüstungskontrollverträge ablehnt oder
grundsätzlich kritisch betrachtet.
Nur zwischen den Zeilen ist zu
erkennen, dass Obama und Gottemoeller Vorsicht walten ließen. Die
Kritiker werfen ihnen nämlich vor, dass sie die russische
Vertragsverletzung nicht beim Namen nannten, sondern den neuen
NATO-Ausschuss für Rüstungskontrolle, Abrüstung und
Nichtverbreitung nur darüber unterrichtet haben, dass es sein könne,
dass Russland den INF-Vertrag verletze oder künftig verletzen
werde.
Was die Kritiker als Urteilsschwäche der US-Administration
werten, ist wahrscheinlich gesunde Vorsicht und Skepsis angesichts
nicht ganz so schlüssiger Aufklärungsergebnisse. Die US-Regierung
will sich nicht zu Vorwürfen hinreißen lassen, die sie nicht
belegen kann.
Von
variablen und vagen Fakten
Ein
Blick auf die materielle Substanz der Vorwürfe zeigt: Vorsicht
könnte durchaus geboten sein. Zunächst konzentrierten sich die
Spekulationen auf Testflüge einer neuen ballistischen Rakete mit der
Bezeichnung RS-24 Yars M. Sie soll mehrere Sprengköpfe tragen und
sei im Juni 2013 über eine Reichweite von nur gut 2.000 Kilometern
getestet worden – von Kapustin Yar nach Sary Shagan. Das wäre nur
ein Verstoß gegen den INF-Vertrag, wenn auch die maximale Reichweite
des Flugkörpers unter 5.500 Kilometer läge. Bald stellte sich
heraus: Schon ein Jahr zuvor wurde offenbar eine Rakete gleichen Typs
getestet – von Plesetsk im nordwestlichen Russland nach Kura auf
Kamtschatka. Das sind aber 5.800 Kilometer. Damit gilt dieser
Raketentyp als Interkontinentalrakete und fällt unter den New
START-Vertrag. Dafür spricht auch die Bezeichnung RS-24 Yars M. Bei
Flugkörpern, die als RS-24 bezeichnet werden, handelt es sich in der
Regel um Varianten der bekannten SS-27 Topol M. Mehr noch: Auch
Interkontinentalraketen können natürlich über geringere als ihre
maximale Reichweite eingesetzt werden. Das wäre nicht ungewöhnlich.
Testschüsse von Kapustin Yar nach Sary-Shagan werden von Moskaus
Militär gewöhnlich durchgeführt, um herauszufinden, ob eine Waffe
Raketenabwehrsystemen ausweichen kann.
Kaum war der erste Verdacht
einer Vertragsverletzung gekontert, brachte Bill Gertz, ein
Journalist der erzkonservativen Washington
Times, in seinem Blog die
nächste Variante ins Spiel: Russland habe im Juni 2013 eine ganz
andere verdächtige Rakete getestet, die RS-26. Auch sie werde
Mehrfachsprengköpfe tragen und solle Raketenabwehrsysteme in Europa
unterlaufen. Möglicherweise habe dieser Flugkörper nur zwei
Antriebsstufen und somit eine kürzere Reichweite, so wurde
spekuliert. Möglich sei auch, dass es sich um eine Ableitung aus der
seegestützen Rakete Bulava handele. Bekannt sei doch ohnehin, dass
viele russische Politiker und Militärs den INF-Vertrag gerne
aufkündigen würden. Der New START-Vertrag lasse es zu, genau zu
hinterfragen, ob eine der Vertragsparteien neue Raketen entwickle.
Dafür sei es jetzt an der Zeit.
Auch diese Spekulation blieb
fragwürdig. Das russische Militär hat 2012 und 2013 vier
erfolgreiche Tests mit Raketen großer Reichweite durchgeführt. Die
RS-26, so die russische Auskunft, sei eine kleinere, leichtere,
mobilere Interkontinentalrakete. Auch diese Waffe sei bereits über
mehr als 5.500 Kilometer von Plesetsk nach Kura getestet worden,. Das
National Air and Space Intelligence Center der US-Luftwaffe (NASIC)
hat die RS-26 in seinem jüngsten Bericht über ausländische
Flugkörper (2013) als strategische Waffe mit einer Reichweite von
mehr als 5.500 Kilometern eingestuft. Würde es sich um eine Variante
der Bulawa handeln, so würde die Reichweite der seegestützten
Version von rund 8.000 Kilometern dafür sprechen, dass es sich
ebenfalls um eine strategische Rakete handeln muss.
Mittlerweile
ist eine dritte Version aufgetaucht, die den Verdacht einer
Verletzung des INF-Vertrages durch Moskau stützen soll. Nun ist
nicht mehr von einer ballistischen Rakete die Rede, sondern von einem
landgestützten Marschflugkörper. So zum Beispiel Ende Januar die
New York Times.
Das NASIC listete 2013 für Russland keine entsprechende Waffe als in
Entwicklung oder vor der Stationierung befindlich. Auch passt ein
Marschflugkörper kaum zu den Beobachtungen über die Raketentests,
über die 2012 und 2013 berichtet wurden. Allerdings gab es 2007
Berichte, Russland habe einen Test mit einem bodengestützten
Marschflugkörper als potentielle Bewaffnung des Raketensystems
Iskander durchgeführt. Die Angaben zu dessen Reichweite variierten
damals stark. Teils war von Hunderten, teils von Tausenden von
Kilometern die Rede. Für den für das Iskander-K-System entwickelten
Marschflugkörper R-500, der damals verdächtigt wurde, werden heute
zumeist Reichweiten unter 300 Kilometern angegeben. Aktuelle
Meldungen über einen bodengestützten russischen Marschflugkörper
mit 1.000, 2.000 oder gar mehr als 2.500 Kilometern sind bisher nicht
bekannt geworden.
Da die Primär-Quellen für die Behauptung einer
Vertragsverletzung bislang ungenannt blieben, sind nur Nachfragen bei
republikanischen Abgeordneten möglich, die von der US-Regierung über
die vorliegenden Aufklärungsergebnisse informiert wurden. Sie
vertreten die Auffassung, die Administration sei den Vorwürfen
bislang nur unzureichend nachgegangen und habe den Kongress nicht
ausreichend informiert. Das ist verständlich für
Oppositionsabgeordnete, die der nuklearen Abrüstung skeptisch oder
ablehnend gegenüberstehen und versuchen, politisches Kapital aus
einer Kontroverse wie dieser herauszuschlagen.
Das
Moskauer Dilemma
Ganz
unschuldig ist Moskau an den wilden Spekulationen in Washington ganz
sicher nicht. Gekonnt wie zu Zeiten des Kalten Krieges verwirren
russische Militärs und Politiker die Öffentlichkeit mit
unterschiedlichen Angaben über die Entwicklung und den Bau neuer
Interkontinentalraketen. Selbst Experten blicken inzwischen verwirrt
auf die Vielzahl der Bezeichnungen neuer Typen: Yars M, RS-24, RS-26,
KY-26, Rubesch, Avantgard, Sarmat – das alles sollen neue
landgestützte Raketentypen großer Reichweite sein, die künftig die
Interkontinentalraketen aus dem Kalten Krieg ablösen und die
nukleare Zweitschlagfähigkeit Moskaus garantieren sollen.
Druck
auf Russland, seine Interkontinentalraketen zu modernisieren,
entstand durch drei Faktoren. Erstens erreichen die bislang
vorhandenen Interkontinentalraketen in rascher Folge und in großer
Zahl das Ende ihrer technischen Lebensdauer. Modernisieren kann man
sie oft nicht mehr, weil die Industriebetriebe, die sie früher
hergestellt haben, seit dem Zerfall der UdSSR oft im Ausland liegen
und zum Teil gar nicht mehr existieren. Zweitens konnte Russland in
den vergangenen 20 Jahren nur vergleichsweise wenig Geld in die
Modernisierung seiner Raketen investieren und musste sich aufgrund
der verbliebenen industriellen Infrastruktur auf den Bau leichter
Interkontinentalraketen beschränken. Drittens gelang es Russland bis
zuletzt in den Abrüstungsverhandlungen mit Washington nicht, die USA
vertraglich auf möglichst niedrige Obergrenzen für Zahl
strategischer Trägersysteme festzulegen. Der New START-Vertrag
erlaubt den USA und Russland am Ende seiner Laufzeit noch immer 700
aktive und 100 weitere, inaktive Trägersysteme. Russland verfügt
schon heute nur noch über 473 derartige Systeme, 293 davon sind
landgestützte Interkontinentalraketen, von denen viele in den
nächsten Jahren ersetzt werden müssen. Mehrere unterschiedliche
Typen sind betroffen, deshalb sollen auch mehrere neue Typen
eingeführt werden.
Realistisch ist anzunehmen, dass Moskau in den
nächsten 10-15 Jahren maximal drei Typen neuer
Interkontinentalraketen in Dienst stellt: zwei leichtere mit
Festtreibstoff und eine schwere Rakete mit Flüssigtreibstoff.
Die
angelaufene Modernisierung der russischen Raketenbestände – zu
Land und auch zur See – ist aus Moskauer Sicht nicht zuletzt Folge
der unbefriedigenden Rüstungskontrollvereinbarungen mit Washington.
Diese wiederum haben eine Ursache in den engen Vorgaben für die
Rüstungskontrolle, die der Kongress Präsident Obama seit seinem
Amtsantritt gemacht hat und an die dieser sich hält.
Obamas
Rüstungskontrollgegner
Es
begann bereits mit dem National Defense Authorization Act 2010, dem
Verteidigungshaushaltsgesetz, und damit vor den Verhandlungen über
das New START-Abkommen. Der US-Administration wurde mit diesem Gesetz
vom Kongress vorgegeben, keine vertraglichen Verpflichtungen
einzugehen, die den Aufbau von Raketenabwehrsystemen, Weltraumwaffen
und vor allem die Entwicklung und Stationierung konventionell
bestückter Langstreckenwaffen eingeschränkt hätten. Das bewegte
Obamas Unterhändler zu einem konservativen Verhandlungsansatz
hinsichtlich der Zahl strategischer Trägersysteme. Denn
Interkontinentalraketen und seegestützte ballistische Raketen eignen
sich inzwischen auch, um konventionelle Sprengköpfe ins Ziel zu
tragen. Russland dagegen konnte sich hohe Trägerzahlen nicht
erlauben und strebte deutlich niedrigere Obergrenzen an. Im
russischen Interesse lag es andererseits, mehr
Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen zuzulassen, weil es
seine Zweitschlagfähigkeit auf diesem Weg kostengünstiger
aufrechterhalten konnte. Schließlich akzeptierte Moskau eine höhere
Zahl erlaubter Träger, Washington zusätzliche
Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Mit vereinten
Kräften reduzierten die Vertragsparteien so die Tragweite ihrer
neuen Abrüstungsvereinbarung.
Kaum war der Vertrag unter Dach und
Fach, beschloss der Kongress mit seinem nächsten Haushaltsgesetz,
der Präsident dürfe die im Vertrag festgelegten Obergrenzen nur
noch dann unterschreiten, wenn er dies ausführlich gegenüber dem
Parlament begründe und dieser sein Einverständnis signalisiere.
Zuvor waren solche Unterschreitungen eine auf beiden Seiten übliche
Praxis. Wiederholt erleichterten sie Gespräche über niedrigere
Obergrenzen bei Nachfolgeabkommen.
Bald darauf wurde dem
Präsidenten aufgegeben, regelmäßig zu berichten, ob Russland
Wünsche oder Vorschläge für vertragliche Beschränkungen geäußert
habe, die die Raketenabwehrpläne der USA, die Entwicklung von
Weltraumwaffen oder künftige Fähigkeiten zu konventionellen
Schlägen mit Langstreckenwaffen einschränken könnten. Dahinter
stand die Absicht, rechtzeitig gegen entsprechende Verhandlungen
vorgehen zu können.
Seit dem Haushaltsgesetz für 2012 verkoppelt
der Kongress zudem die nächste Runde nuklear-strategischer
Verhandlungen mit Forderungen, auch nicht-strategische, also
taktische Atomwaffen in diese einzubeziehen, weil Moskau bei diesen
Systemen einen numerischen Vorteil habe. Mehr noch: Während der
Kongress Obama einerseits vorgibt, an den eigenen nicht-strategischen
Atomwaffen in Europa festzuhalten, fordert er zugleich: Nur eine
Abrüstung der Potentiale Russlands und nicht deren Verlagerung weg
von den Grenzen der NATO müsse bei solchen Verhandlungen das Ziel
sein.
All diese Vorgaben haben ein gemeinsames Ziel: Den Abschluss
eines weiteren START-Vertrages in der zweiten Amtszeit Obamas zu
behindern, wenn nicht zu verhindern. Neue Hürden werden aufgebaut.
Ein gutes Beispiel ist die Forderung, nicht-strategische Atomwaffen
in den nächsten START-Vertrag einzubeziehen. Die US-Regierung hat
sich auf diese Forderung bereits eingelassen. Um einen solchen
Vertrag abschließen zu können, müssten zunächst Regeln zu seiner
Überprüfung entwickelt werden. Diese müssten sich erstmals auch
auf atomare Sprengköpfe und nicht nur auf die Trägersysteme
beziehen. Es gibt dafür bisher kein Vorbild. Um solche Regeln
auszuhandeln, braucht man Zeit. Würden sie aufgestellt, so beträfen
sie später aber vor allem Russland. Denn die USA planen, ihre
letzten nicht-strategischen Nuklearwaffen, die Atombomben der Modelle
B61-3 und -4 so zu modernisieren, dass sie sich technisch nicht mehr
von strategischen Atombomben unterscheiden. Eine neue Waffe, die
B61-12, soll alle strategischen und alle nicht-strategischen
Atombomben der USA gleichzeitig ersetzen.
Nachbemerkung:
Colin S. Gray war lange ein wichtiger Vordenker konservativer
amerikanischer Politik. Er hält Rüstungskontrolle für einen
„nichttödlichen Virus, der unausrottbar die Politik befallen“
hat. Rüstungskontrolle müsse fehlschlagen, weil nicht Waffen,
sondern Politik über Krieg und Frieden entscheiden, weil
Rüstungskontrolle keine Stabilität schaffe, ihre positiven
Wirkungen wie theologische Dogmen von der politischen Klasse
lediglich geglaubt würden. Rüstungskontrolle führe nur dann zu
wirksamen Rüstungsbeschränkungen, wenn die beteiligten Staaten
hinreichendes Vertrauen zueinander hätten, also
Rüstungsbeschränkungen gar nicht zwingend erforderlich seien.
Zwischen verfeindeten Staaten sei effektive Rüstungskontrolle
dagegen so gut wie unmöglich. Rüstungskontrolle schade bestenfalls
nicht, aber wirklich nützlich sei sie erst recht nicht. Nachzulesen
in Gray’s bereits 1992 erschienenem Buch „Das Kartenhaus –
Warum Rüstungskontrolle scheitern muss“.
Gray ist Mitarbeiter
des National Institute for Public Policy. Dort arbeitet seit vielen
Jahren auch der ehemalige Pentagon-Angestellte Mark Schneider. Mark
Schneider ist der „Vater“ aller drei „Beispiele“ für die
These, Moskau verstoße mit seinen Raketentests gegen den
INF-Vertrag.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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