Blätter für deutsche und internationale Politik
September 2003

(Nachdruck in
"der Flugleiter" 4/2003)


Mogelpackung Galileo

Susanne Härpfer

Galileo soll Europa unabhängig von den Amerikanern machen – mit diesem Slogan wird bis heute für das Satellitennavigationssystem geworben. Gleichwohl ist der Traum inzwischen ausgeträumt. Galileo kann in Kriegs- und Krisenfällen genauso lokal abgeschaltet oder modifiziert werden, wie dies bereits beim amerikanischen global positioning system, kurz GPS, der Fall ist. Möglicherweise haben Interessenvertreter das sogar von Anfang an gewusst, dieses Wissen aber bis heute verschwiegen.

Ohne Galileo drohe Europa zum Vasallen Amerikas zu werden, soll Frankreichs Präsident Jacques Chirac gesagt haben.1 Mit dem Argument der Unabhängigkeit wurden die enormen Kosten gerechtfertigt. Erste Schätzungen veranschlagen mindestens vier Mrd. Euro für das Projekt. Ob es dabei bleibt, ist ungewiss. Nur die Hälfte der Summe bringt die Industrie auf, den Rest zahlt der Steuerzahler. Doch auch für den lohne sich Galileo, versprachen Politiker.


GPS-Monopol

Bislang verfügen die Amerikaner bei der Satellitennavigation über ein Monopol: GPS – ursprünglich für die amerikanische Armee entwickelt – ist inzwischen selbst aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Ob Autofahrer, Segler, Hobbyflieger oder Wanderer, weltweit orientieren sich alle an den Daten des Satellitennetzes. Aber eben auch weiterhin die Militärs. Raketen, Bomben und Marschflugkörper finden per GPS ihr Ziel und Truppenbewegungen lassen sich damit lokalisieren. Deshalb behält sich das US-Verteidigungsministerium vor, GPS-Signale zu verändern oder zu stören – wie zuletzt im Kosovokrieg. Und das betrifft im Ernstfall eben jeden. Etwa 1,3 Mio. Autos in Europa haben einen GPS-Empfänger an Bord, mit dem sich die genaue Position des Fahrzeugs und damit gewünschte Routen berechnen lassen. Während des Irakkriegs warnte der ADAC seine Mitglieder davor, sich auf GPS zu verlassen. Der Automobilclub befürchtete, die Amerikaner könnten ihr System einschränken.

Eine solche Einschränkung des Angebots sei mit der Unabhängigkeit europäischer Staaten nicht zu vereinbaren, wetterte Rainer Hertrich.2 Für ihn ist Galileo sogar "ein Muss". Kein Wunder, denn der Luft- und Raumfahrtkonzern EADS, dessen Vorstand er präsidiert, ist einer der Hauptnutznießer des europäischen Galileo-Projekts.

Gerne führen Galileo-Promoter wie Hertrich das Beispiel "Ariane" an. Als sich in den 60er Jahren die Amerikaner weigerten, europäische Nachrichtensatelliten ins All zu schießen, entwickelte Europa kurzerhand eine eigene Rakete – die Ariane. Sie avancierte zu einem der meist gebuchten Trägersysteme der Welt. Ebenso werde auch Galileo ein US-Monopol brechen, behaupten EU-Politiker. Zumal Galileo, im Gegensatz zum GPS, rein zivil genutzt werden solle, wie es zumindest in der Anfangsphase hieß. Dabei muss den Fachleuten, die mit der Entwicklung betraut worden waren, klar gewesen sein, dass Satellitennavigation per se eine klassische "dual use"-Technik ist. Trotzdem wurde in der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, Galileo sei eine rein zivile Technik. "Das mag daran liegen, dass es keine Zustimmung des Ministerrats für Galileo gegeben hätte, wäre gesagt worden, dass ein spezieller militärischer Code entwickelt werden solle", meint Heinz Hilbrecht, Direktor der Europäischen Kommission für Landverkehr. 3 Führte man die Minister also hinters Licht? Oder hat keiner von ihnen nachgefragt?

Kaum war Galileo beschlossen, wurden jedenfalls die Stimmen lauter, die sich für eine militärische Nutzung der Satelliten aussprachen. Dazu gehören Sigmar Wittig, Chef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, und der SPD-Europaparlamentarier Ulrich Stockmann. Er erhofft sich von Galileo sicherheitspolitische Unabhängigkeit. Da irrt er, ebenso wie die Militärs, die mit Galileo liebäugeln, dies aber nur selten öffentlich – sie fürchten die Kosten. Denn im Gegensatz zum kostenlosen GPS-Service für jedermann soll Galileo für die Anwender wie pay-TV funktionieren.

Wer das militärische Potential negiere, handle sogar grob fahrlässig, meinen die Autoren Lindström und Gasparini vom European Union Institute for Security Studies.4 Denn das hieße, bestehende Gefahren zu negieren. Terroristen können das bereits bestehende zivile GPS-Angebot für Angriffe missbrauchen.


Simple Physik

Auch aus diesem Grund haben sich die USA stets vorbehalten, Satellitennavigation zu modifizieren – also entweder zu jammen (zu stören) oder zu spoofen (falsche Koordinaten vorzuspiegeln). Der Pentagon-Beamte Sal Manno hatte im Jahr 2002 deutlich gemacht, dass die Militärs im Kriegs- oder Konfliktfall gerade zivile Satellitendienste stören werden.

Das gelte auch für Galileo.5 Schließlich ist jede Satellitentechnik störbar, unabhängig davon, ob sie primär zivil oder militärisch angewendet wird. Das ist simple Physik, es wurde nur bislang meist verschwiegen und stattdessen in der öffentlichen Debatte suggeriert, ein ziviles System garantiere, von ungewollten Eingriffen verschont zu bleiben.

Techniker des Instituts für Erdmessung und Navigation der Universität der Bundeswehr hingegen hielten die Störpotentiale für unstrittig und forderten bereits im Jahr 2000, dass zivile Systeme störbar sein müssen.6 Direktor des Instituts ist Günter Hein. Als Unterhändler mit den USA sollte er eigentlich für die Europäer genau das Gegenteil erreichen. Aber unter seiner Leitung lenkte Europa ein. Zwar schlugen sie den Amerikanern zunächst vor, im Kriegsfall könne ja ein US-General zusammen mit EU-Repräsentanten entscheiden, ob Galileo ausgebremst werden müsse. Doch Washington lehnte jede europäische Mitsprache kategorisch ab. Nunmehr soll es zukünftig ein Krisenzentrum geben, das 24 Stunden besetzt ist. Aber auch dieses müsse es wohl hinnehmen, wenn im Kriegs- oder Krisenfall ein militärischer Kommandeur vor Ort entscheide, die Galileo- Signale zu stören, räumt Heinz Hilbrecht ein. Deshalb fragen sich Bernd Eisfeller und seine Kollegen vom Institut für Erdmessung und Navigation, weshalb dieses Zentrum überhaupt eingerichtet werden soll. Im Grunde werde es vermutlich nur wie die amerikanische Küstenwache zivilen Nutzern wie Seglern mitteilen, dass der Service für eine bestimmte Region eingeschränkt wird, so seine Einschätzung.7

Noch vor anderthalb Jahren gingen die Europäer davon aus, dass in einem solchen Krisenzentrum der jeweilige Kommandeur und ein Galileo-Repräsentant gemeinsam entscheiden würden. "Dies ist nicht mehr der Fall", so Hilbrecht wörtlich. Er muss es wissen, denn er leitet die europäische Gruppe, die mit den Amerikanern verhandelt. Trotzdem werde die Kommission den Europäischen Rat auffordern, ein solches Krisenzentrum zu schaffen, das eventuell einmal bei einem Europäischen Außenminister angesiedelt werden könnte, erläuterte Hilbrecht. Es könne für den Fall zuständig sein, dass Terroristen in Europa sich des Galileo- Signals bemächtigten.

Verschlusssache Sicherheit

Mit Sicherheitsaspekten ganz anderer Art beschäftigt sich das so genannte Galileo Security Board (GSB), das so zusagen den Verfassungsschutz für Galileo darstellt. Alle Informationen und jede Tätigkeit dieses Gremiums gelten als Verschlusssache. Vom Bundesverkehrsministerium, das für Deutschland die Sprecherrolle zum Thema Galileo übernommen hat, erfährt man dazu: "Die inhaltlichen Arbeiten des GSB, die vor rund einem Jahr aufgenommen wurden, sind interner Natur. Zum großen Teil werden sie auf Grund ihrer Sicherheitsrelevanz voraussichtlich auch in Zukunft nicht veröffentlicht werden." 8 Das Gremium ist nach Auskunft Hilbrechts in vier Untergruppen unterteilt. Eine beschäftige sich mit der Frage, wie mit Verschlusssachen generell umzugehen sei, die zweite, wie bei sicherheitsrelevanten Fragen der Kontakt zur Industrie gestaltet werden solle, eine weitere kümmere sich um die internationalen Beziehungen und die vierte Gruppe arbeite zum Thema Signaltechnik. Diese Gruppe, geleitet von Günter Hein, machte im April diesen Jahres in einem weiteren Punkt einen Rückzieher. Ursprünglich wollten die Europäer im selben Frequenzbereich senden, in dem die Amerikaner das verschlüsselte Signal für das Militär betreiben. Daraufhin verlangte der stellvertretende US-Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz, Europa möge für die Verschlüsselung militärischer Navigations- und Ortungsdaten andere Frequenzen als die USA bei GPS nutzen. Die Begründung der Amerikaner: Es könne nicht angehen, dass, wenn das Europäische System in seiner Funktion gestört werden müsse, das US-System gleich mit ausfiele. Genau dies aber sollte für die Europäer die Garantie der Unabhängigkeit sein. Davon ist nichts übrig geblieben. Heins Signaltechnik- Gruppe ruderte zurück und legte Galileo- Signale auf andere Frequenzbereiche. Ganz wie von den Amerikanern gewünscht. Im Gespräch verdeutlicht Hilbrecht, dass mit beeinträchtigten Galileo-Signalen zu rechnen ist, wenn es die Situation erfordert: "Das ist unstrittig. Es wäre nur zu verhindern gewesen, dass dies ohne unsere Einwilligung geschieht, wenn wir dieselben Frequenz-Modulationen genutzt hätten. Wir glaubten damals, die USA davon überzeugen zu können. Heute gibt es zwar noch kein endgültiges Verhandlungsergebnis, aber es erscheint unrealistisch, die alte Position durchzusetzen."

Damit bleibt aber von dem Hauptargument für die Einführung von Galileo nichts übrig. Eine sicherheitspolitische Unabhängigkeit von den USA wird es durch Galileo nicht geben. Was also bleibt? Für die Einführung von Galileo habe auch gesprochen, so Hilbrecht, dass es sich um einen Wachstumsmarkt der Industrie handle. Fragen der Wirtschaftlichkeit hätten zu Beginn im Vordergrund gestanden, Sicherheitsfragen seien erst später angesprochen worden. Industrievertreter erhoffen sich ein Riesengeschäft. Amerikanische Firmen überlegen sich bereits, in Zukunft für GPS-Angebote ebenfalls Gebühren zu verlangen.

Es stellt sich daher die Frage, ob die Probleme mit Absicht ausgeklammert wurden, um das Projekt Galileo nicht zu gefährden. Angesichts der hohen Kosten stand es lange auf der Kippe. Bernd Eisfeller von der Münchner Universität der Bundeswehr glaubt, die Störbarkeit von Galileo sei lange nicht thematisiert worden, weil die Gründungsväter hauptsächlich aus der Kommunikationsbranche und der Raumfahrtbehörde ESA stammten. Sie hätten sich solche Fragen einfach nicht gestellt. Doch das ist falsch. Eine Studie der Bundeswehrhochschule über die wirtschaftsstrategische und sicherheitspolitische Bedeutung des europäischen Satelli- tennavigationssystems Galileo kam bereits im Jahr 2000 zu dem Schluss, "trotz aller wirtschaftlichen Konkurrenz wird der Satellitennavigationsmarkt der Zukunft nur kooperativ gestaltbar sein."9 Weniger diplomatisch heißt dies: Der US-Einfluss ist unausweichlich, von der proklamierten sicherheitspolitischen Unabhängigkeit der Europäer bleibt nichts. Und zivile Anwender finanzieren mit ihren Steuergeldern die Entwicklung eines Systems, das es mit GPS bereits kostenlos gibt, um dafür in der Zukunft auch noch bezahlen zu müssen. Kurzum: Galileo ist eine Mogelpackung, eine verdeckte Industrie- Subvention durch Steuergelder.

 

Susanne Härpfer ist freie Fernseh-Journalistin.

 

1 Dirk Asendorf, Wer lenkt den Leitstern?, in: “Die Zeit”, 27.3.2003.
2 Thomas Heuzeroth, Galileo kommt - Houston hat ein Problem, in: “Welt am Sonntag”, 6.4. 2003.
3 Alle Zitate Heinz Hilbrechts beruhen auf einem Telefoninterview mit der Autorin, das geführt wurde für: Susanne Härpfer, Galileo - ein Milliardenflop? NDR Info, “Streitkräfte und Strategien”, 9.8.2003.
4 Vgl. Gustav Lindström und Giovanni Gasparini, The Galileo satellite system and its security implications, in: European Union Institute for Security Studies, Occasional Papers, 4/2003.
5 Darren Lake und Michael Stark, All go for Galileo?, in: “Janes”, 10.4.2002.
6 Vgl. Bernd Eisfeller, Günter W. Hein u.a., Requirements on the Galileo Signature Structure, Neubiberg 2000.
7 Alle Zitate Bernd Eisfellers beruhen auf einem Telefoninterview mit der Autorin.
8 Michael Zirpel, Pressesprecher des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, in einem Schreiben an die Autorin, 23.7. 2003.
9 Vgl. Günter W. Hein, Wirtschaftsstrategische und sicherheitspolitische Bedeutung des europäischen Satellitennavigationssystems Galileo und seine Auswirkungen auf die zivile Infrastruktur, in: Zusammenfassung Galileo-Workshop, Berlin, 25.10.2000.