ADLAS Magazin
Nr. 3 / Dezember 2015


30 Jahre Rüstungsträume

Rüstungsplanung: Mit den Träumen von gestern zu den Waffen von morgen für die Kriege von übermorgen

von Otfried Nassauer

»Ein Mensch erhofft sich fromm und still, dass er einst kriegt, was er will. Bis er dann doch dem Wahn erliegt und schließlich das will, was er kriegt.«

Besser als mit den Worten des Münchener Pazifisten und Schriftstellers Eugen Roth kann man das empirisch nachweisbare Ergebnis deutscher Rüstungsplanung in den letzten Jahrzehnten kaum beschreiben. Visionär sind Roths Worte zudem.

Sie zweifeln, liebe Leser? Dann lesen sie selbst: Die längerfristige Planung der Bundeswehr sieht offiziell vor, dass die Bundeswehr künftig unter anderem mit dem Eurofighter, mit Kampfdrohnen, luftgestützter Fernmeldeaufklärung an Bord eines »Breguet Atlantic«-Nachfolgers, dem Hubschrauber »Tiger« oder zum Beispiel mit dem Panzerabwehrraketensystem »PARS 3« ausgestattet wird. Vielleicht wird es sogar einen »Leopard 3« geben.

Die Planungsdokumente, in die wir geschaut haben, um dies zu erfahren, sind allerdings mehr als 30 Jahre alt. Wir haben nachgelesen, was der damalige Verteidigungsminister Manfred Wörner in die erste, von ihm zu verantwortende Bundeswehrplanung schreiben ließ, nachdem Helmut Kohl und Hans Dietrich Genscher im Jahr 1982 eine schwarz-gelbe Koalition gebildet hatten.

Dort steht noch mehr: Der Nachfolger für die Breguet Atlantic wird ab 1989 zur Beschaffung anstehen, der Tiger ab 1990. Der Eurofighter wird 1995 eingeführt, die Kampfdrohne 1997, der Leopard 3 möglicherweise schon ab 2000. Die 52.000 Panzerabwehrraketen vom Typ PARS-3 sollen ab 1991 zulaufen. Rund 240 Milliarden DM sollten laut der damaligen Planung binnen 15 Jahren in neue Ausstattung für die Bundeswehr fließen. 

Zahlen aus dem Kalten Krieg. Ihr Kontext ist jene Phase, in der die Nato mit dem sogenannten Rogers-Plan und dem Konzept der »Follow on Forces Attacks« (FOFA) die Kriegführung in Mitteleuropa technisch revolutionieren und die Truppen des Warschauer Paktes sowie dessen nach Zehntausenden zählendes Großgerät mit modernsten Lenk- und Präzisionswaffen schon weit jenseits der Front zerschlagen wollte.

Doch trotz des zeitlichen Abstands von 30 Jahren geht es hier keineswegs um »olle Kamellen«, die längst keine Rolle mehr spielen. Das schwant dem Leser spätestens, wenn er auch einen Blick in die aktuelle Bundeswehplanung wagt. Die Beschaffung des Eurofighters und des Tigers sind weiter im Gange. Sie verlaufen alles andere als problemlos. Mit der Einführung der luftgestützten Signalaufklärung als Breguet-Atlantic-Nachfolge konnte bislang nicht begonnen werden. Sowohl das hierfür vorgesehene Bundeswehr-Vorhaben »Lapas« als auch die Großdrohne »Eurohawk« scheiterten. Auch die Kampfdrohne ist weiterhin Zukunftsmusik. Sie soll jetzt nach 2020 eingeführt werden. Für das Entwicklungsvorhaben Panzerabwehrrakete PARS empfahlen die Berater der KPMG Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im vergangenen Jahr erfolglos den Abbruch statt einer Beschaffung. Es blieb weiter beider alten Planung, um zu verhindern dass der Tiger noch  auf Jahre zahnlos bleibt, also auf Eck- und Schneidezähne, die  Hauptbewaffnung verzichten muss. Auch die Entwicklung eines neuen Kampfpanzers, des Leopard 3, wurde durch die Ukrainekrise und als potentielle Morgengabe für das geplante Zusammengehen der Panzerhersteller KMW und Nexter vor kurzem wieder auf die Tagesordnung gespült.

Die ollen Kamellen erzählen uns also weit mehr über das Phänomen Beschaffungsplanung als den Zuständigen in Bundeswehr, Verteidigungsministerium, Planungs- und Beschaffungsamt lieb sein kann. Sie kennzeichnen deren Planung als von mangelndem Realismus und nur scheinbarer Rationalität geprägt. Sie war oft und in weiten Bereichen Traumtänzerei, vielfach gekennzeichnet von einer »Wünsch-Dir-was-Mentalität«, der weder ein sich stetig wandelndes sicherheitspolitisches Umfeld etwas anhaben konnte, noch die  Haushaltsrealitäten.

Diese »Wünsch-Dir was-Mentalität« prägte nicht nur die Forderungen des Militärs, sondern auch die politische Einflussnahme, die immer wieder auf diesen Planungsbereich einwirkt. Die Hubschrauber Tiger und NH90 sind beispielsweise Konsequenzen aus Helmut Kohls Wunsch nach einer verstärkten deutsch-französischen Rüstungskooperation in den 1980er Jahren. Industriepolitische Einflussnahme wie im Fall des Transportflugzeugs A400M, insbesondere bei dessen Triebwerk, kommt ergänzend hinzu. Ebenso lokal- und regionalpolitische Einflussnahmen, ausgeübt zum Beispiel durch Parlamentarier, die eine rationale Bundeswehrplanung mit sektoraler oder regionaler Wirtschaftsförderung verwechseln.

Mitunter dauert es nicht nur 20 oder 30 Jahre, bis ein neues, größeres Waffensystem entwickelt ist und zur Einführung kommt. Selbst nach einem solchen Zeitraum kann es noch immer nicht realisierte Zukunftsplanung oder gar reines Wunschdenken sein. Das zeigen die Beispiele PARS, Breguet Atlantic-Nachfolge und Kampfdrohne. Die Objekte der Beschaffungsbegierde wechseln offenbar nur selten, wohl aber die zu ihrer Legitimation notwendigen Begründungen. Kontinuität zeigt sich dagegen im Blick auf die industrie- und arbeitsmarktpolitischen Funktionen, die der Beschaffungspolitik immer wieder zugesprochen werden. 

Teil der Absicherung der unterschiedlichen Interessenslagen und der Möglichkeit ihrer kontinuierlichen Verfolgung ist eine systematische Überplanung. In der Beschaffungsplanung steht daher regelmäßig weit mehr, als die vorhersehbar verfügbaren Haushaltsmittel hergeben. Die Beschaffungsplanung der Bundeswehr war von den 1980er bis zu den 2000er Jahren zumeist von systematischer Überplanung geprägt. Projekte im Multimilliardenumfang standen zwar auf dem Papier, ihre finanzielle und damit praktische Umsetzung dagegen in den Sternen. Verzögerungen und Verteuerungen bei laufenden Vorhaben und das berühmte »Schieben, Strecken, Streichen« führten dazu, dass die Bugwelle jener Projekte, die zwar geplant  wurden, aber  nicht finanzierbar waren, immer weiter anschwoll.

Selbst ein Einschnitt wie das Ende des Kalten Krieges, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die daraus folgende Veränderung der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und finanziellen Prioritäten führten nicht dazu, dass es zu einem grundsätzlichen Neuansatz in der Beschaffungsplanung kam. Analog zur schritt- und scheibchenweisen Verkleinerung der Streitkräfte wurde auch in der Rüstungsplanung primär geschoben und gestreckt aber nur  notfalls gestrichen. Es sollte rund zehn weitere Jahre dauern, bis die zahlreicher und größer werdenden Auslandseinsätze der Bundeswehr die Notwendigkeit erzwangen, systematischer für diese Einsätze geplantes Material in jene finanzielle Freiräume zu quetschen, die zwischen den vertraglich gebundenen Alt- und Großprojekten mit langen Laufzeiten noch blieben.

Erst unter Verteidigungsminister Peter Struck und  Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan kam es erstmals zu einem Versuch, diesem jedwedem Realismus spottenden Spuk ein Ende zu setzen. Den Planern wurde aufgegeben, die realitätsfernen Formen der Überplanung aufzugeben. In der Haushaltsplanung für das jeweils kommende Jahr sollte nur noch kleine Auswahl wünschenswerter Vorhaben aufscheinen, die man umsetzten könnte, wenn fest eingeplante Mittel nicht verauslagt und daher umgewidmet werden mussten: Die sogenannten »Römisch-II-Projekte«.

Doch auch dieser Vorsatz  wurde nicht lange durchgehalten. Als nach 2010 immer gravierendere Probleme mit dem Mittelabfluss bei Großprojekten wie dem Eurofighter oder dem A400M entstanden, weil technische oder Projektmanagementprobleme zu spät erkannt oder von der Industrie verspätet gemeldet wurden, konnten auch die Römisch-II-Projekte nicht mehr verhindern, dass verteidigungsinvestive Mittel in Milliardenhöhe an den Bundeshaushalt zurückflossen.

In den Haushaltsjahren 2015 und 2016 deutet sich deshalb erneut eine Trendwende an. Die Römisch-II-Projekte werden wieder zahlreicher, und sie werden umfangreicher. Vermehrt werden wieder Vorhaben eingestellt, die man gerne hätte, für die aber im Haushalt entweder noch kein Platz war oder bei denen noch unklar ist, ob sie rechtzeitig vertragsreif gemacht werden können. Die Römisch-II-Projekte bekommen die Funktion von Platzhaltern für das militärisch oder politisch Wünschbare. Zu diesen Vorhaben gehören jetzt auch wieder Schwergewichte wie die Modernisierung von 84 Leopard-2-Panzern oder die nächste Entwicklungsphase für ein Taktisches Luftverteidigungssystem. Mit anderen Worten: Es geht um mehr als reine Reserve- und Ersatzprojekte. Manche dieser Vorhaben würden Haushaltsbindungen für die Folgejahre auslösen. Das klassische, so lange desaströs wirkende Phänomen der Überplanung droht zurückzukehren.

Schon möglich: Die große Koalition mag den Beschaffungsplanern als ein geeigneter Zeitraum erscheinen, sowohl eigene als auch seitens der Politik geäußerte Wünsche nach deutlich höheren Verteidigungsausgaben umzusetzen. Genug Geld, um die Summe dieser Wünsche realisieren zu können, wird es jedoch keineswegs geben. Und somit droht zugleich der Rückfall in jene Beschaffungsträume, die in der Vergangenheit oft genug zu einem Scheitern in der Wirklichkeit beigetragen haben. Mehr Geld ist deshalb kaum die richtige Lösung.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS